Die Wächter von Enruah (Leseprobe)

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1.

Das Schnarchen aus dem Nachbarzimmer fiel ihm erst jetzt auf. Die Wände waren nicht gerade dick, und bis auf das Zirpen der Grillen war es in Kamra still geworden.

Alles ruhte, nur Darian war hellwach und schaute aus dem Fenster. Er bewunderte den Anblick des vollen Mondes, der die Inselberge beschien und drei seltsame Fratzen auf die Felsen warf.

Gleich würde er samt seiner Rüstung und dem Schwert auf dem Rücken zwischen diesen Felsen hinaufsteigen und dem Drachen gegenübertreten. Forwin würde ihm alles abverlangen und noch mehr. Doch Darian war bereit.

Die Holzdielen der Hütte knarzten, als er sich vom Fenster abwandte und zur anderen Seite des Raumes schritt. Auf dem Tisch brannte eine Kerze, daneben lagen ein Apfel und ein Stapel Münzen. Beides steckte er ein. Vermutlich würde er nicht mehr zurückkommen. Er hatte das Bett nur gebraucht, um sich für fünf Stunden schlafen zu legen, seine Kräfte wiederherzustellen.

Eine kleine Treppe führte ihn hinaus auf den Schotterweg, der sich zwischen den Hütten hindurch schlängelte. Darian folgte dem Weg, überquerte den menschenleeren Dorfplatz, auf dem noch immer die Überreste des Spanferkels am Spieß hingen, und ließ kurz darauf das letzte Häuschen hinter sich. Vor ihm lag der höchste Berg der Insel, und der Pfad, der ihn zwischen Sträuchern hinaufführte, wurde immer schmaler.

Binnen kürzester Zeit hatte er diesen so unschuldigen Ort liebgewonnen. Dabei war seine Reise anstrengend gewesen. Das Schiff hatte ihn an der Westküste der Insel abgesetzt, und von dort hatte er sich zu Fuß durch einen Wald den Hang hinauf kämpfen müssen. Ein Rudel Wölfe hatte ihm zugesetzt. Mit dem kreisenden Zweihänder hatte er sich die Bestien vom Leib gehalten und sie dann einen nach dem anderen erledigt. Im Dorf hatte man ihn mit Freuden empfangen, fast wie einen Messias. Der Älteste versprach ihm seine Tochter, sobald er die Gefahr beseitigt habe.

Darian dachte nicht ernsthaft daran, die Belohnung anzunehmen. Eine Liebschaft mit einer Inseltochter würde die Sache nur unnötig kompliziert machen. Er war schließlich wegen Rouan hier, Fürstin in der Region Kubesch. Sie hatte von ihm eine Heldentat gefordert, wenn er sich ernsthafte Hoffnungen machen wollte, den leeren Platz an ihrer Seite einzunehmen und Herrscher über Städte und Dörfer zu werden. Einer ihrer Hofmarschälle hatte ihm dann von der Insel erzählt, die von dem Drachen Forwin tyrannisiert werde. Regelmäßig verschwänden Dorfbewohner, deren Überreste später in der Nähe der Drachenhöhle ganz oben im Gebirge entdeckt würden. Darian hatte sich sofort auf den Weg gemacht. Rouan, die überaus edle Frau mit der diamantklaren Stimme, war es allemal wert, das Wagnis auf sich zu nehmen.

Mittlerweile hatte sich der Pfad verloren, der Anstieg war steiler geworden. Meter um Meter stapfte er weiter nach oben. Er konnte nun fast alle Ränder der Insel überblicken, an denen sich die funkelnden Wellen brachen. Wie ein Vogelnest lag das Dorf Kamra unter ihm in der Senke. Wenn er wiederkam, würden die Bewohner wach sein und er würde das glitschige Herz des Drachen vor ihnen auf den Dorfplatz werfen. Was für ein Spektakel würde das sein, was für einen Ekel und was für eine Freude würde das hervorrufen!

Je höher er kam, umso längere Schatten warfen die Felsen und umso weniger Sträucher säumten den Weg. Der wurde immer steiniger und bald kämpfte er sich nur noch über Geröll vorwärts. Als wäre das nicht genug, kreisten jetzt auch Greifvögel über ihm. Er war in Forwins Reich; weit weg das Dorf und noch weiter weg der Ort, aus dem er gekommen war.

Er hätte das merkwürdige Holzbrett schon von Weitem bemerken müssen. Hier gab es keine Bäume, weshalb also lag es mitten auf seinem Weg? Diese Frage stellte er sich erst, als es zu spät war. Sein Fuß trat auf das Brett, irgendein Mechanismus wurde ausgelöst und ein Grollen ertönte. Kurz ereilte ihn die Panik, denn er sah etwas sehr Großes auf sich zukommen. Dann besann er sich: Wo eine Falle war, gab es immer auch eine Nische. Im selben Moment entdeckte er sie zwischen zwei Felsen. Hektisch zwängte er sich hinein, ehe ein Koloss von Felsbrocken an ihm vorbei rollte. Mit gnadenloser Zielstrebigkeit schoss er jenen Weg hinab, den Darian eben heraufgeklettert war, und verschwand schließlich polternd hinter einer Klippe.

Doch das nächste Geräusch, so leise es auch war, war nicht weniger bedrohlich: ein müdes Brummen. Forwin war erwacht.

Ich bin ein Kämpfer, nicht ein Schleicher, sagte er sich. Noch ein Fläschchen von seinem selbstgemischten Gamandersaft gönnte er sich, dann zog er das Schwert hinter dem Rücken hervor, trat aus seiner Nische und marschierte ohne Umschweife den restlichen Anstieg hinauf.

Er erreichte das Plateau mit einem See, ein paar Bäumen, einer schwarzen Felsöffnung. Am Boden verteilt lagen Rippen, Totenschädel und Beinknochen. Geschichten waren hier versammelt, Schicksale von Müttern, die gerade Wäsche aufgehängt hatten; Bauern, die sich mit störrischem Vieh abgemüht hatten; Helden aus fernen Ländern, die vergeblich angereist waren, um Kamra zu erlösen. Zwischen all diesen Geschichten stapfte Darian nun heran, sie würden ihn in seinem Kampf begleiten.

Forwin hatte sich vor der Höhle aufgebaut. Die Vorderklauen waren angriffslustig ausgestreckt, zwei Glutaugen stachen Löcher in die Welt der Schatten. Bei Tag hätte der Panzer wohl grün ausgesehen, doch jetzt schimmerten die Brust und der tänzelnde Schwanz so dunkel wie durch Pech gezogen. Als Forwin seinen Angreifer erblickte, stieß er ein Heulen aus und spannte demonstrativ seine Flügel, die vom Mond schwach durchleuchtet wurden.

Der Onyxdrache auf der Zeichnung des Hofmarschalls hatte weniger eindrucksvoll ausgesehen, erinnerte sich Darian. Die Federstriche hatten zwar jedes Detail fein abgebildet, aber ein solches Monstrum hatten sie nicht zu zeigen vermocht. Darian war schon mit allem Möglichen fertig geworden: mit Bären, Ogern, einer Bullenherde, einem Zyklopen, einem wildgewordenen schwarzen Ritter. Aber für diesen Gegner hier brauchte es mehr als ein paar geübte Hiebe.

Er blieb in gebührendem Abstand, hielt den Zweihänder vor sich ausgestreckt und tänzelte im Halbkreis um seinen Widersacher herum, ohne auch nur einen Moment den Blick von ihm abzuwenden. Forwin setzte sein Imponiergehabe fort. Er brüllte aus Leibeskräften und ließ die Schwanzspitze gegen den Höhleneingang donnern, sodass Steine herausbrachen. Dann zog er den Kopf zurück, um ihn kurz darauf kraftvoll nach vorn zu stoßen und eine meterlange Feuerzunge über den Boden flackern zu lassen.

Darian ließ sich zur Seite rollen und hechtete hinter einen Stein. Forwin schickte eine noch breitere Flamme in seine Richtung. Links und rechts von Darian rauschte das Feuer am Stein vorbei und ließ für einige Augenblicke die Umgebung gleißend hell erscheinen. Einige der Knochen am Boden waren zu schwarzen Häufchen verbrannt – ausgelöschte Geschichten. Darian würde sie nicht mehr zurückholen können, egal welche Kostbarkeiten er später in der Höhle finden würde.

Die Höhle, natürlich! Er nutzte den Augenblick, in dem Forwin sich sammelte, schnellte aus seiner Deckung hervor und sprintete zu der Felsöffnung. Der Drache konnte nicht rasch genug reagieren; als er sich umdrehte, war Darian bereits in seiner Behausung. In der Dunkelheit konnte er zwar nichts erkennen, aber er wusste, dass Forwin seine stärkste Waffe, das Feuer, hier nicht anwenden würde. Doch Forwin hatte noch eine andere Waffe, die hier umso stärker wirkte: Er senkte den Kopf und stieß ein so gellendes Heulen aus, dass Darian glaubte, ihm würde gleich das Trommelfell platzen. Mit größter Anstrengung hielt er dem durchdringenden Ton stand und näherte sich dem schreiverzerrten Drachenkopf am Eingang. Als er nahe genug war, führte er einen Stoß mit seinem Langschwert aus, punktgenau zwischen die weit auseinandergerissenen Zahnreihen des Ungetüms. Der Schrei wurde lauter, Forwin riss augenblicklich den Kopf zurück und begann ihn wild in der Luft zu schütteln.

Darian zögerte nicht. Er schoss aus der Höhle, umrundete den Drachen und stieß das Schwert in Forwins am Boden liegenden Schwanz. Doch als wäre es ein eigenständiges Wesen, richtete sich der Schwanz auf, schwang durch die Luft und schleuderte Darian mehrere Meter zurück.

Unkoordiniert drehte Forwin sich wieder in seine Richtung und stieß eine neue Feuerzunge aus. Sie verfehlte Darian, traf einen Baum und verwandelte diesen in eine Fackel. Darian raffte sich auf und rannte los. Hinter sich hörte er den wilden Flügelschlag und das wütende Fauchen. Er lief schneller. Dann ertönte von schräg oben wieder ein Zischen aus Forwins Rachen, der Boden wurde heller und schließlich erreichte ihn das Feuer. Wie eine Armee von Ungeziefer umschlang es seine Beine und ließ sie nicht mehr los. Er brauchte nicht nach unten zu schauen um zu wissen: Er stand in Flammen. Ein paar Sekunden und es war aus.

Seine Rettung war das Spiegelbild, das er rechts von sich erblickte: Da rannte ein zweiter brennender Darian. Ja, direkt neben ihm war der See! Ein Sprung und er war im Wasser. Wieder ein Zischen, diesmal vom erlöschenden Feuer. Darian tauchte unter und wieder auf. Geistesgegenwärtig zückte er ein weiteres Fläschchen Gamandersaft und trank es aus.

Forwin begann, um den See zu kreisen und Feuer auf seinen Gegner zu spucken. Darian gelang es, sich immer rechtzeitig zu ducken. Ein paarmal ließ er den Drachen gewähren, dann beschloss er, dass es Zeit für einen Angriff war. Er stellte sich im seichten Wasser auf, reckte das Schwert empor. Forwin hatte eben wieder beigedreht, um abermals auf ihn zuzufliegen. Als er sich auf etwa zwanzig Meter genähert hatte, schickte er eine Feuerflamme in Darians Richtung. Darian duckte sich, bis das Feuer vorübergezogen war. Augenblicklich stand er wieder auf und erwischte mit dem Schwert den Bauch des Drachen, der knapp über ihm hinwegflog. Eine tiefrote Linie schnitt sich in Forwins Rumpf. Das Tier schlug immer langsamer mit den Flügeln, trudelte hilflos dem Plateau entgegen, prallte krachend mit dem Bauch auf und schlidderte bis kurz vor den Abgrund.

Mit triumphierendem Grinsen eilte Darian zu seinem Gegner. Forwin bewegte sich nur noch schwach. Verächtlich blickte der Krieger auf den gekrümmt daliegenden Schwanz. Er hob sein Schwert zum letzten Stoß.

Da schnellte die Schwanzspitze nach oben, traf Darians ungeschützten Körper und schleuderte ihn dorthin, wo der Drache beinahe gelandet wäre: in den Abgrund.

Darian wurde nach unten gezogen, die Felsen rasten an ihm vorbei, Sekunden vergingen, ein dumpfer Schlag und es war dunkel.

 

»So eine elende Kacke!«, schimpfte Jakob vor sich hin, hämmerte einmal auf die Escape-Taste, dann noch zweimal, bis er auf dem sanft flimmernden Desktop angekommen war. Wie Gift wirkte das grelle Blau jetzt in seinen Augen. Ein paar Sekunden blieb er regungslos sitzen.

Jetzt hörte er das Schnarchen von nebenan wieder, ein rhythmisches, ungehemmtes Schnarchen. Es erinnerte ihn daran, dass er sich in einer Studenten-WG befand. Ein paar orangefarbene Achtzigerjahre-Digitalzahlen neben seinem Bett zeigten 2:35 an. Das Schlimme war, dass er seit der Hütte nicht mehr gespeichert hatte.

Die Augen taten ihm weh. Er öffnete rasch den Browser, schaute sich die Nachrichten an, checkte Facebook, nix Besonderes dabei. Er schloss den Browser, spielte noch eine Runde Minesweeper, verlor. Er schloss das Fenster und starrte eine Weile in den Bildschirm. Warum hatte er sich so unvorsichtig vor die Klippen stellen müssen! Er hätte warten sollen, schauen, was passiert. Die Digitalzahlen zeigten jetzt 2:48 an.

Jakob fuhr den Rechner herunter und stand auf. Im Dunkeln zog er sich um. Genug Realms of Evertale für heute. Es konnte ihn wahnsinnig machen, dass er nicht kurz vor dem Drachen gespeichert hatte!

Heute kein Zähneputzen. Er legte sich ins Bett und blieb eine Viertelstunde lang auf dem Rücken liegen. Alles war dunkel und still, doch in Jakobs Kopf tobte es. Vorhin noch hatte er beschlossen, dass er Evertale hasste, und nun war er in Gedanken schon wieder dort und bekam Sehnsucht. Da warteten ein paar Freunde in der Schenke, da wartete Rouan und natürlich wartete der Drache. Er malte sich aus, was er anders hätte machen können. Der Trick mit der Höhle war gut, nur danach musste er schneller in den See gelangen. Dann würde es reichen.

Ihm fiel ein, dass morgen eine Vorlesung ausfiel: »Grundlagen des Investitionsmanagements«. Dabei hatte er den Text vorbereitet. Alles in Ordnung in der richtigen Welt, dachte er sich. Sofern dort überhaupt etwas in Ordnung sein konnte. Er suchte nach einer günstigen Schlafposition, wälzte sich hin und her, streifte die Decke ab. Ohne Decke schlief er jedoch auch nicht ein.

Er stand wieder auf. Der Wecker zeigte 3:28. Jakob schaltete den Computer an. Er musste diese Sache zu Ende bringen. Sie warteten auf ihn.

Gleich würde er sich wieder in der Holzhütte befinden, aus dem Fenster blicken und den Mond bewundern, der einfach wahnsinnig gut gemacht war.

Dass der nächste Tag das Ende seines wirklichen Lebens einleiten könnte, daran dachte er nicht.

 

Timo Braun
Die Wächter von Enruah
Bestell-Nr. 395.405.000 
ISBN
978-3-7751-5405-5 
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