Im Elfenbeinturm

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Allein die Schreibmaschine war das Wahre. Er tippte, es klapperte, das Papier wanderte, er konnte sehen, wie die Seite voller wurde. Eine Zeile pro Minute, fünfzehn Zeilen noch und er war fertig. Mehr Zeit hatte er nicht. Neben der Maschine lagen acht volle Bogen, der Aschenbecher hielt sie fest.

»... kann sich der Mensch aus den Fesseln gesellschaftlicher Zwänge befreien.« Er tippte, es klapperte. Seine Lesebrille war nach vorn gerutscht. Sie war teuer gewesen, letzte Woche erst hatte er sie besorgt. Das waren wieder einmal neunundachtzig Euro für eine Sache, die eigentlich nicht der Rede wert war. Brillen kaufte man nicht, Brillen hatte man auf. Die nächste Zeile. Ihm taten die Finger weh. Man musste das G so fest drücken, dass es jedes Mal etwas lauter klackte als die anderen Buchstaben. Sonst wäre es fast Musik gewesen. Schreiben war wie Musik, dachte er sich. In seinem Innern hörte er jetzt den 4. Satz der 9. Sinfonie von Gustav Mahler. Noch die letzten Zeilen schreiben, heute Abend, wenn es sich bot, würde er sich die Platte einlegen. Die CD mit dem hellblauen Cover musste es sein, sie stand in der dritten Reihe eher links. 

Er wollte weitertippen, keine Zeit verlieren. Doch es ging nicht. Jetzt war der Gedanke ihm abhanden gekommen. Nein, es war kein Gedanke, es war ein Begriff. Er suchte wieder nach dem Begriff. Er hatte wundervoll geklungen, Menschheitsvisionen in sich getragen. Einen solchen Begriff zu verlieren bedeutete Zukunft, Sinn, Leben zu verlieren. Die Zeile war noch immer nicht begonnen. Er musste aufstehen. Die Brille saß nicht richtig. Er schob sie zurück. Eigentlich hätte er jetzt einen Blick aus dem Fenster werfen können, hinaus in die bewaldete Hügellandschaft. Den Atem anhalten, Begriffe durchforsten. Doch er kam nicht dazu. Er schaute auf die andere Seite des Zimmers. Noch ehe er daran dachte, was zu tun war, bewegte er sich zum Regal, griff nach der CD, öffnete sie, legte sie ein, wählte Nr. 4 und stellte die Lautstärke auf ein Viertel. Mahler ertönte. Er atmete aus und kehrte zu seinem Platz zurück.

Er tippte die nächste Zeile. »Eigentlichkeit« war der Begriff gewesen. Ärgerlich, er hatte rund eine Minute verloren. Entweder holte er sie in den nächsten Zeilen auf oder er würde am Ende eine Zeile zu wenig haben. Er musste nicht überlegen, denn sein nächster Gedanke brachte ihm gleich zwei Zeilen ein: »Das Sichselbstsein ist die große Kunst, deren Erlernen nur wenige wagen. Sie wagen es darum, weil sie den Preis, es nicht zu erlernen, als ungleich höher erkennen.« 

Es hörte wieder auf zu klappern und er legte die Hände ab. Sie sahen faltig aus, wie ihm auffiel. In den letzten paar Jahren waren sie auch fleckiger geworden. Die Musik bemerkte er schon fast nicht mehr. Sie plätscherte dahin, seine Gedanken gingen wieder nicht voran. Im Aschenbecher zählte er sieben Stummel, heute morgen war er noch leer gewesen. Sieben, das waren eindeutig zu viele. Fünf hatte er abgemacht, fünf und nicht eine mehr. Die Schachtel mit den Zigaretten lag auf der anderen Seite der Schreibmaschine, das Feuerzeug daneben. Er holte sich die zweitletzte heraus und zündete sie an. Den ersten Rauch blies er gegen das Blatt in der Maschine. Vermutlich rochen sie alle danach, jedes einzelne Blatt. Auch dieses Blatt würde sich noch füllen. Eigentlich war es fast voll, nur ein kleines bisschen Weiß war übrig. Sehen konnte er das nicht, da es in der Maschine steckte, aber er hatte ja die Zeilen mitgezählt. Die zehntletzte Zeile tippte er in den nächsten Augenblicken und die neuntletzte gleich anschließend. Das Gedankengebäude war nahe der Vollendung. Er stellte es sich bildlich vor. Er war der Maurer und nur noch ein kleiner Teil der Wand musste mit Steinen besetzt werden.

Vor ihm auf dem Fenstersims lag die Zeitschrift, die voriges Jahr erschienen war. Er war nicht auf der Titelseite abgedruckt, aber auf Seite 23 fing der Artikel über ihn an. »Vorreiter der Selbstbestimmung« hieß die Überschrift. Wegen des Layouts hatten sie wohl keine längere machen können. Ein Bild von ihm, nicht mehr ganz neu, aber ein gelungenes, war direkt unter dem Titel zu sehen. Ein anderes hatten sie geschossen, als sie zu dem Gespräch vorbeikamen. Es war auf Seite 24 unten: er allein vor seiner Schreibmaschine, den Blick in die Ferne gerichtet. Insgesamt vier Seiten Text. Das alles hatte er jetzt vor Augen, auch wenn das Magazin noch immer geschlossen auf dem Sims lag, über all den anderen Heften der letzten Jahrzehnte. Nächste Woche wollten sie von einer großen Wochenzeitung kommen. Bis dahin musste er den Schreibtisch aufräumen. Oder am besten gleich. Zumindest die losen Konzeptblätter stapeln. 

Aber das würde wieder Zeit kosten. Zeit hatte er nicht. 

Wenigstens drei Blätter brachte er in die rechte Reihenfolge, dann tippte er wieder eine Zeile. Es klapperte. Eine Zeile über die Wichtigkeit der innerlichen Erhabenheit über die Umstände des Lebens, vor allem den Tod. Nächste Woche kamen sie. Sie kamen und er musste bereit sein. Es war dieses Blatt, das vor zwanzig Jahren schon dagewesen war. Jedes Wort dieses verheerenden Interviews kannte er noch. Warum er die Jugend verraten habe. Teuflische Frage. Wo sein Esprit geblieben sei. Furchtbares Modewort. Dieses Interview, darüber war er sich sicher, dieses Interview war verantwortlich für all die anderen Sachen, die man danach über ihn sagte. Bestimmt zehn Jahre lang sagte man diese Dinge, wenn man überhaupt noch etwas sagte. Der Stapel an seinem Fenster war seit damals langsamer gewachsen. Aber es musste reichen, sagte er sich jetzt, für die Lehrbücher von morgen.

Die Zigarette steckte nun fest in seinem Mund und rauchte nur noch vor sich hin. Die siebtletzte und die zwei folgenden Zeilen handelten vom Trug der modernen Gesellschaft, von Masken, Einschnürung und schwachen Substituten wie Kirche und Konsum. Es war ein wohlgeformter Satz, in den er nur einen Nebensatz einzubetten hatte. Er besaß so etwas wie einen eigenen Klangkörper. Dreimal las er ihn, viermal. Immer noch klang er fein in seinen Ohren. Dabei war er ihm in nur kürzester Zeit eingefallen. Er hatte nun wieder Zeit gewonnen. Zeit, um den Blick zum Bücherregal wenden zu können, dort, wo für kurze Zeit das Bild seiner verstorbenen Frau gestanden hatte. Es hatte die vier Bände von Schopenhauer verdeckt, nur die Hälfte des Titels hatte man noch lesen können. Aber das war einige Jahre her. Schopenhauer stand noch immer da, wieder vollständig lesbar. Und, so fiel ihm jetzt ein, er hätte da schon hundertfünfzig Jahre stehen können, wenn es das Haus damals schon gegeben hätte. Wie ein Koloss stand Schopenhauer da. Aber er hatte auch nicht die Jugend verraten, hatte nur geschrieben, was einen unsterblich machte: über schon immer Dagewesenes, über Bleibendes. So etwas machte einen unsterblich. 

Er schrieb die nächste Zeile. Kurz vor Ende klackte das G wieder laut auf. Er nahm die Hände von der Maschine und verschränkte die Arme. Der Anschluss zum nächsten Satz fehlte. Ihm fiel zwar ein ganz kurzer Satz ein, doch die Zeit seiner kurzen Sätze war vorbei. Früher hatte er sich noch Sachen erdreistet wie »Wehrt euch!« oder »Die Zeit ist reif«. Da hatten sie ihm noch angehangen, die Jungen. Hatten freiwillig Aufsätze gelesen, Vorträge besucht. Ihm nicht nur zugehört, sondern auch gehandelt. Sie hatten ihn wie einen Propheten behandelt, ihn zitiert. Aber von Gewalt, von Gewalt hatte er nichts geschrieben. Keiner, nicht einer von ihnen konnte ihn zitieren, wenn es um Gewalt ging. Wenn ein Reporter einen von ihnen fragte, was sie da taten, nein, da hätten sie ihn aus dem Spiel lassen müssen, die Jungen, die doch immer alles falsch verstanden. 

Noch immer fand er nicht den Anschluss. Er brauchte einen guten Satz, einen mit viel Klarheit und ohne missverständlichen Begriff. Er fing an: »Menschen haben schon immer und werden auch immer ...«. Zur Vollendung blickte er zwischendurch aus dem Fenster, wo Vögel vorbeiflogen. Dann schloss er den Satz ab. Vier Zeilen noch, er schaute auf die Uhr. Die Finger lagen fest an ihren Buchstaben. Ihm fiel ein weiterer Satz ein, zwei weitere Zeilen. Man würde sie bald lesen können. Mit schwarzer Tinte auf gebundenem Papier, mehrfach gedruckt. Gewiss, es war für eine Fachzeitschrift. Aber sie stand in den Bibliotheken von Universitäten, die auch noch in Jahrzehnten dort sein würden. Massen würden es lesen. Nicht alle jetzt, sie verteilten sich auf heute, morgen, übermorgen. Das war gesünder.

Die Finger taten ihm weh. Aber jetzt war nicht die Zeit zum Ausruhen. Die letzten zwei Zeilen mussten alles leisten, was noch nicht geleistet war. Sie waren der Schlussstein. Vermutlich würde es ein einziger Satz sein. Kolossal, allumspannend. Zwei Minuten hatte er noch dafür. Die Finger tänzelten schwach über den Buchstaben, er blickte auf die Maschine, aufs Fenstersims, in die Natur hinaus. Ein Satz, der alles in sich trug und es zugleich zusammenhielt. Nur zwei Zeilen hatte er. Das Einstiegswort musste er finden. Wenn er das hatte, rollte sich der Rest wie von selbst auf. Er schaute wieder auf die Maschine, dann auf den Aschenbecher. Er zog kräftig an seiner Zigarette und die ersten Aschebröckel fielen auf den Schreibtisch. Mahler leitete zum schnellen Teil über. Seine Brille saß wieder vorn. Die letzte Minute brach an. Eine Minute für den großen Satz. Er schaute sich seinen vorigen Satz noch einmal an und beschloss, dass ihm die Zeit nichts anderes übrigließ, als das zu tun, was er jetzt tat. Er stand auf, eilte zum Regal, zog Schopenhauer heraus und schlug die Aphorismen auf. Sein Finger suchte eine angestrichene Passage. Er setzte sich wieder, legte den Band neben die Maschine. Natürlich musste er Nebensätze auslassen, Begriffe den eigenen anpassen. Es war lediglich eine Inspiration. Und er schrieb: »Für unser Lebensglück ist also das, was wir sind, unser Selbst, das Wichtigste ‒ schließlich ist es nicht dem Schicksal unterworfen und kann uns nicht entrissen werden.« Er hörte auf zu tippen, zog am oberen Ende des Blattes und schaute sich kurz die vollgeschriebene Seite an. Er legte sie auf den Stapel zu den anderen, bündelte diesen und steckte ihn in den Umschlag, den er vorbereitet hatte. Er schaute wieder auf die Uhr. Die Minute war um. Es reichte. Wenn er jetzt losging, würde er in vier Minuten bei der Post sein und den Umschlag per Express losschicken, sodass die Redaktion den Artikel rechtzeitig erhielt und wie versprochen in die nächste Ausgabe nehmen konnte. Gleich danach machte die Post zu.

 

© 2009 Timo Braun

 

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