Die Reise des kleinen Tropfens

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Dem kleinen Wassertropfen ging es rundum gut, solange er Teil einer herrlichen, weißen Wolke war. Nichts war schöner, als von der angenehm warmen Sonne beschienen zu werden und dabei zugleich den kühlen Fahrtwind der dahingleitenden Wolke zu genießen.

Seine Sorglosigkeit verschwand an dem Tag, an dem eine andere Wolke unaufhaltsam auf sie zukam – eine dicke, schwarze Gewitterwolke. Verängstigt fragte er einen der Tropfen neben ihm:

»Was wird mit uns geschehen, wenn sie uns erreicht?«

»Ich weiß nicht. Aber ich habe einmal gehört, dass sie uns heftig zusammendrücken wird und wir uns alle in schwere Regentropfen verwandeln.« Der kleine Tropfen wusste sehr wohl, was dies bedeutete.

»Ich möchte aber nicht auf die Erde fallen. Ich will hier oben bei der Sonne bleiben.«

»Ach, weißt du: Vielleicht ist es ja gar nicht so schlecht da unten. Stell dir vor, du fällst auf grünen Boden. Die Pflanzen werden von dir trinken und zu mächtigen Bäumen heranwachsen. Dein Leben wird endlich einen Sinn bekommen.«

»Einen Sinn«, grübelte der kleine Tropfen, »meinst du, das gibt es da unten?«

»Du wirst nicht umsonst auf die Erde fallen.«

Diese Ermutigung konnte der kleine Tropfen sehr gut gebrauchen, denn schon wenig später verschwand die Sonne aus seinem Blickfeld. Ohne Gnade schob sich die schwarze Wolke der weißen entgegen, bis sich die vordersten Schwaden zu einem wilden Ringen gefunden hatten. Der Tropfen spürte, wie ihm kälter wurde und wie er sich zusammenzog. Je mehr dunkle Wolkenschleier in das Innere der weißen Wolke drangen, umso schwerer fühlte er sich. Er merkte, wie er sich von seinem sicheren Platz in der Mitte der Wolke zu lösen und schließlich zu fallen begann. Es dauerte nur wenige Augenblicke, ehe er den tobenden Kampf der beiden Wolken über sich gelassen hatte und frei dem fernen Erdboden entgegenstürzte. Er hätte sich ganz schön einsam gefühlt, wenn nicht um ihn herum viele andere Tropfen dasselbe erlebt hätten wie er.

Er frohr ein wenig, während die bunte Fläche unter ihm immer mehr auf ihn zueilte. Sie wurde mit jedem Stück farbenfroher und detailreicher. Ein großer blauer Fleck wurde von grünen, braunen und gelben Flächen umschlossen und je näher er kam, umso mehr nahm der Tropfen die sanften Bewegungen darauf wahr. Dann erschrak er, als ihm bewusst wurde, dass seine Flugrichtung genau das Gewässer unter ihm treffen würde. Er würde nicht etwa auf saftig grünes Land fallen und einem großen Baum zum Wachstum verhelfen, sondern stattdessen in einer großen, bedeutungslosen Ansammlung von Wasser verschwinden. Niemand würde ihn registrieren oder brauchen, sein Dasein würde sinnlos sein. Sein tiefer Sturz aus der sicheren Wolke würde alles beenden, was sein Leben je an Bedeutung gehabt hatte. Er wünschte sich augenblicklich, dass er an der Wasseroberfläche zerschellen und sich für immer auflösen würde.

Doch das geschah nicht. Sehr wohl traf es ihn hart, als er unten ankam und auf das breite Gewässer aufschlug. Aber anstatt zu zerschellen, zog es ihn nur für einige Momente in die Tiefe, ehe er zum Stehen kam und sich von unzähligen anderen Tropfen umgeben sah.

»Willkommen im See«, hörte er jemanden sagen.

»Ich lebe noch?«

»Was heißt hier 'noch'? Du fängst doch gerade erst an zu leben!«

»Was meinst du damit?«

»Also bitte! Du bist doch auch gerade aus dieser Wolke gestürzt. Da bist du ein Leben lang nur den tristen Himmel entlanggezogen und hattest keinerlei Freiheiten. Jetzt hast du das einmalige Glück, mitten im unendlichen Gewässer gelandet zu sein, tun und lassen zu können was du willst und dann fragst du dich, ob du noch lebst. Mit dir stimmt wohl etwas nicht.«

»Du meinst, ich kann hier tun und lassen was ich will?«

»So ist es. Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann genieße dein Dasein in der Freiheit und lebe dein Leben.«

Diese Worte gefielen dem kleinen Tropfen sehr gut und überhaupt wusste er sowieso nicht, was er sonst hätte machen sollen, als das was ihm der andere Tropfen geraten hatte. So begann er, sich von den zahllosen Strömungen im Inneren dieses riesigen Gewässers mal da und mal dorthin treiben zu lassen. Einmal zog es ihn bis auf den hügelreichen Sandboden hinunter, dann glitt er für eine Weile an der glitzernden Oberfläche entlang. Er schloss sich einer Gruppe von Tropfen an, die eine dünne Alge elegant hin- und herbewegten und er ließ sich mit einer schäumenden Welle bedrohlich weit auf das Ufer hinaustreiben und wieder zurückspülen. Ja, es gefiel ihm, das Leben in der Freiheit und kein einziges Mal dachte er noch daran, dass er sich in einem eintönigen, leblosen Gewässer befand. Je länger er jedoch die vielen Besonderheiten des Sees erlebte und je mehr er darin entdeckte, umso mehr fragte er sich, welchen Zweck das alles hatte. So schön das Gefühl war, sich treiben zu lassen und alle Möglichkeiten zu nutzen, so ziellos wirkte das alles auf ihn.

Als hätte er den Gedanken laut ausgesprochen, gesellte sich ein Kamerad neben den kleinen Tropfen und stieß ihn an.

»Dafür dass du ein freier Wassertropfen bist, wirkst du nicht gerade glücklich.«

»Ach weißt du, ich fühle mich einfach total leer. Dieser See ist so groß und doch weiß ich nichts mit ihm anzufangen.«

»Das liegt daran, dass du keine Abenteuer erlebst. Wenn du dir die ganze Zeit nur Dinge anschaust, dann ist doch klar, dass es dir irgendwann langweilig wird. Du musst dich hineinstürzen!«

»Was meinst du mit 'hineinstürzen'?«

»Komm mit, ich zeige es dir.«

Rasch warf sich der gut gebaute Tropfen in die nächste Strömung und ließ sich davontreiben. Der kleine Tropfen war sehr bemüht, ihm auf den Fersen zu bleiben. Es gelang ihm nur mit großer Not, ihn auf der schnellen Strecke nicht aus den Augen zu verlieren, mit einer plötzlichen Wende die Strömung zu wechseln und sich dann gegen einen dicken Stein treiben zu lassen, der ihre Reise unterbrach.

»Wir sind da«, sagte der geübte Tropfen vorfreudig, »hinter diesem Stein wirst du das Aufregendste zu sehen bekommen, was du je erblickt hast. Und wenn du ein mutiger Wassertropfen bist, dann wirst du es nicht nur erblicken, sondern dich so weit es geht hineinwagen.«

»In was hinein?«

»In den Wasserfall.«

Der kleine Tropfen erschrak. Sehr wohl wusste er, was mit dem Wasser geschah, das in einen Wasserfall hineingezogen wurde. Es stürzte in die Tiefe und – ...

»...wenn du nicht vorsichtig bist, verschwindest du. Dann ist deine Zeit hier im See beendet und niemand weiß, was mit dir geschieht. Aber gerade diese Spannung ist es, die das Leben interessant macht.«

Er musste sich das alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Dann warf er einen Blick um die Ecke und sah die vielen Tropfen, die von der unendlichen Sogkraft des Wasserfalls durcheinandergewirbelt wurden. Was geschah nur mit denen, die es nicht rechtzeitig wieder hinausschafften und über die Kante am Ende des Sees gezogen wurden?

Er verdrängte diese Frage und stellte sich vor, wie aufregend es sein musste, sich von dem Spektakel erfassen zu lassen und dann wieder auszureißen, kurz bevor es zu spät wäre.

»Weißt du was, ich werde es dir einfach vormachen. Du musst mir nur weiter folgen, dann kann dir nichts passieren. Was glaubst du, wie oft ich das schon gemacht habe?«

Das übezeugte den kleinen Tropfen vollends und so schmiegte er sich entschlossen an seinen erfahrenen Freund. Als dieser sich von dem Stein wegtreiben und in die starke Strömung ziehen ließ, sorgte der kleine Tropfen dafür, dass kein Abstand zwischen ihnen entstehen konnte. Sie wurden immer schneller und immer mehr Steine rasten an ihnen vorbei, als sie der bedrohlichen Kante des Sees entgegeneilten. Mit unglaublicher Wucht wurden sie nach oben gerissen, kurz durch die Luft geschleudert und dann wieder zurück in das wilde Getose geworfen.

»Das ist doch atemberaubend, nicht wahr?«

»Ich hatte noch nie so viel Spaß«, antwortete der kleine Tropfen vergnügt, als es die beiden wieder kurz in die Tiefe zog. Es brauchte nicht lange, da wurden sie gegen einen dicken Felsen gepeitscht, sodass sie sich einige Male um sich selbst drehten und dann an die sprudelnde Oberfläche getrieben wurden.

»So, wir sind angekommen. Noch wenige Meter und dann kommt die Kante. Jetzt dürfen wir keinen Fehler machen. Wir müssen diese Strömung dort erwischen. Sie wird uns gegen einen Felsen treiben, von dem es uns zurück in das stille Gewässer sprizt. Keine Angst, ich habe das wirklich schon oft getan.«

Ein wenig verunsichert machte sich der kleine Tropfen bereit und versuchte, nicht zur Kante zu blicken. Sie trieben eine Weile an der Oberfläche entlang, ehe der erfahrene Tropfen »Jetzt!« schrie und sie sich in die Strömung hineinziehen ließen. Sie war stärker als alles Bisherige und der kleine Tropfen hatte es noch schwerer, an seinem Begleiter dranzubleiben. Dieser drehte sich auf einmal um und sagte dabei: »Ich habe ganz vergessen dir zu sagen, dass das nur bei schweren Tropfen wie mir funktioniert. Wenn du zu leicht bist, wird es dich in eine andere Richtung treiben und du wirst...«

Er redete nicht weiter, sondern konzentrierte sich auf die vor ihm liegende letzte Strecke. Eine Krafte erfasste den schweren Tropfen, zog ihn ein Stück nach unten, schleuderte ihn dann gegen den Felsen und von dort in unvorstellbare Höhen. Doch das bekam der kleine Tropfen gar nicht mehr mit, denn er hatte seinen Begleiter in dem Moment verloren, als sie die Starkströmung erreicht hatten. Während der schwere Tropfen nach unten gezogen worden war, trieb es den kleinen Tropfen wieder an die Oberfläche und dort plötzlich in eine ganz andere Richtung – die ihn an dem Felsen vorbeiführte. Unaufhaltsam schoss er vorüber und schaute entsetzt den Wassermassen entgegen, die in immer kleinerer Entfernung ins Nichts hinunterstürzten. Ein Gedanke der Reue wollte sich ihm aufdrängen, doch er kam nicht mehr dazu, ihn auszuführen. Die unzählbare Menge an Wassertropfen um ihn herum riss ihn mit sich, ließ ihn einen plötzlichen Sog nach unten spüren und stürzte mit ihm im freien Fall in ungewisse Tiefen. Ein Funke der Hoffnung kam in ihm auf, als er für einen Augenblick das Tageslicht erblickte. Doch dann riss ihn ein dumpfer Aufprall wieder in die Wirklichkeit zurück: er hatte das unendliche Gewässer unwiderruflich verlassen und war möglicherweise an einem Ort gelandet, der ihn für immer seiner Freiheit berauben würde.

Es brauchte eine Weile, ehe er sich gefasst hatte und feststellte, dass er wieder in einer großen Ansammlung von Wasser gelandet war. Noch schlimmer aber war die Feststellung, dass er Schmerzen hatte. Der heftige Aufprall hatte ihm ordentlich zugesetzt und ein Stück von ihm abgerissen. Nun war er noch kleiner als zuvor.

Ehe er sich jedoch über seinen Schaden weiter bewusst werden konnte, spürte er, wie er aus dem schäumenden Bereich herausgeschwemmt wurde und in eine schnelle, aber regelmäßige Strömung hineinkam. Je länger sie anhielt, desto mehr hatte er den Eindruck, dass sie nicht wieder so bald aufhören würde.

»Was ist das hier?«, fragte er einen Tropfen, der entschlossen an seiner Seite glitt.

»Du bist in einem Fluss gelandet, mein Lieber. Es geht nur vorwärts.«

»Tatsächlich? Keine Gefahren mehr?«

»Sei dir sicher, dass dir hier nichts passieren wird. Wenn du auf Kurs bleibst, kommst du am Ziel an.«

»Am Ziel? Hier gibt es ein Ziel?« Zum ersten Mal seit dem schweren Sturz keimte Hoffnung in ihm auf.

»Aber sicher doch. Was war schon dieser kleine See? Ich möchte die wirkliche Freiheit. Ich möchte ins Meer.«

»Und da werden wir hinkommen?«

»Lass dich einfach weitertreiben. Wir gehören alle zusammen und wir werden gemeinsam das Ziel erreichen.«

Mit einem Male vergaß der kleine Tropfen, wie klein er geworden war und wurde von dem Gefühl erfüllt, dass sein Dasein nicht umsonst war. Seite an Seite mit all den anderen Tropfen schoss er majestätisch den geradlinigen Fluss entlang und hörte nicht auf, vom großen Meer zu träumen, in das der Fluss sie hineinführen würde. Es gab nichts Größeres und Gewaltigeres als das Meer und er würde in alle Teile der Welt gelangen können.

Eine lange Zeit verstrich, in der er sich den gleichmäßigen Fluss hinunter bewegte und dabei kein einziges Mal von seiner Richtung abkam. Dann jedoch erblickte er etwas vor sich, was sich von allem unterschied, was er bislang gesehen hatte. Es war ein leichtes Schimmern in der Nähe des Ufers, das sich schon bald als ein rätselhaftes Gebilde entpuppte, das ins Wasser getaucht war. Es bewegte sich nicht, sondern ließ die Wassermassen an sich verbeigleiten. Die Neugierde stieg in dem kleinen Tropfen hoch; und vielleicht auch die Angst, den entscheidenden Zugang zu seinem Ziel zu verpassen. Was, wenn dieses seltsame Gebilde tatsächlich der Eingang zum weiten Meer war?

Er bewegte sich ebenfalls in Richtung Ufer und je näher er kam, umso mehr konnte er die rundliche Form erkennen. Dann ging alles ganz schnell: Das durchsichtige Gebilde wurde wieder langsam aus dem Wasser gezogen und beinahe hätte der kleine Tropfen es tatsächlich verpasst. Doch seine Leichtigkeit trug ihn schneller als die anderen Tropfen hin zu dem Gebilde und die Kraft des Flusses spülte ihn mit Schwung in dessen Inneres. Im nächsten Moment war es auch schon wieder aus dem Fluss herausgezogen worden und die heftigen Strömungen um den kleinen Tropfen herum hörten augenblicklich auf. Totenstille herrschte in der neuen Umgebung, in der er sich befand. Es war sehr hell und er konnte um sich herum die Natur erblicken.

»Wir sind doch wohl nicht...«

»Doch. Wir sind in einem Wasserglas gelandet. Glaube mir, ich was schon einmal in einem. Es sah genauso aus wie hier.« Der dicke Tropfen an seiner Seite machte nur ein bitteres Gesicht.

»Und was bedeutet das?«

»Es bedeutet das Ende. Es bedeutet, dass du deinen Traum vom Meer mit aller Wahrscheinlichkeit vergessen kannst. Und es bedeutet, dass überhaupt nichts mehr in deiner Hand liegt.«

»Heißt das, jemand anderes entscheidet, was aus mir wird?«

»Er hat schon längst entschieden. Wenn wir Glück haben, schüttet er uns über einem gesunden Erdboden wieder aus. Wenn wir kein Glück haben, spült er uns wie mich damals in einen Abguss und wir kommen in die unterirdischen Abwässerkanäle. Das ist der furchtbarste Ort, den es auf der Erde gibt. Wir können nur warten.«

Die Stille, die dem beklemmenden Gespräch folgte, hatte nichts mit der Stille zu tun, die der kleine Tropfen in der Wolke genossen hatte, der er sein Leben lang angehört hatte. Die Zeit schien ihn zu erdrücken und noch mehr zu quälen als jeder noch so schlimme Aufprall, der ihm widerfahren war. Es mochten wohl nur wenige Sekunden vergangen zu sein; doch sie wirkten wie eine höllische Ewigkeit. Den ziellosen See, den dramatischen Wasserfall, den eintönigen Fluss – alles hätte er eingetauscht gegen ein dunkles, stickiges Abwasserrohr, aus dem er vielleicht nie wieder würde entfliehen können, wenn er einmal darin gelandet war. Die Vorstellungen, die sich in ihm abspielten, waren unangenehmer als all die Dinge, von denen er geglaubt hatte, sie wären schlimm.

Es war wie eine Erlösung, als das Glas sich endlich zu kippen begann. Nicht dass es große Hoffnungen an einen erfüllten Ort waren, die auf einmal in ihm geweckt wurden; nein, er mochte nicht mehr daran glauben, dass es diesen Ort überhaupt gab – außer in seiner Wolke. Doch alles war besser, als noch länger in dem engen, leblosen Glas zu verharren und sich von der Ungewissheit zu Tode quälen zu lassen.

Er bemerkte einen leichten Zug, dann wurde es ein rasches Dahinströmen und zuletzt ein kraftvoller Sturz, der ihn aus dem Glas hinausschwemmte. Er fiel nicht tief, sondern landete auch schon im nächsten Moment erneut in einer Ansammlung dicht gedrängter Wassertropfen. Sofort merkte er, dass es dunkel war und eine unerträgliche Hitze in dem Raum herrschte. Die anderen Tropfen hüpften wild umher, tobten an der Oberfläche oder wurden gegen die Wand des Gefäßes gedrückt. Noch mehr schockierten ihn aber die Tropfen, die mit unerklärbarer Kraft nach oben getrieben wurden, dort einen Moment verharrten und sich in einer davonsteigenden Dampfwolke auflösten.

»An was für einem schrecklichen Ort befinden wir uns hier, um Himmels Willen!«, brachte der kleine Tropfen heraus, als er sich gegen die Wand gepresst an einen anderen Tropfen wandte.

»Das ist ein Kochtopf. Ich kenne in der Tat keinen gefährlicheren Ort. Nicht wenige gehen hier für immer verloren, weil sie meinen, an der Oberfläche seien sie sicher.«

»Was passiert mit ihnen?«

»Sie verdampfen. Es ist, als hätte es sie nie gegeben.«

»Und was passiert mit den anderen?«

»Abwarten, einfach abwarten. Wichtig ist ersteinmal, dass du überlebst. Dann wirst du schon sehen, was aus dir wird.«

»Ich möchte aber wissen, wozu ich überlebe?«

»Um des Überlebens Willen. Wenn du dich damit nicht zufrieden geben kannst, dann wirst du es nicht schaffen.« Der kleine Tropfen dachte nach.

»Gut, was muss ich tun?«

»Bleibe hier am Rand und sobald die Zutaten kommen, hefte dich an eine von ihnen. Sie werden dich abkülen und vor der Hitze bewahren. Und vergiss nicht, auf dein Überleben zu hoffen.«

Im nächsten Augenblick wandte er sich ab und hängte sich an einen grünen Gegenstand, der soeben zu ihnen hineingestürzt war.

Verzweifelt schaute sich der kleine Tropfen um und versuchte, ebenfalls einen solchen Gegenstand zu finden. Keiner befand sich in seiner Nähe und er war gezwungen, sich vom Rand des Topfes zu lösen. Vorsichtig glitt er in Richtung der Mitte und spürte, wie das Beben unter ihm stärker wurde. Eine rötliche Zutat schwamm in greifbarer Nähe vor ihm her, wurde aber immer wieder von plötzlichen, brodelnden Wellenbergen hinweggetragen. Er merkte nicht, wie er immer mehr ins Zentrum gelangte und die Hitze stärker wurde. Dann erfasste ihn ebenfalls ein starker Hub, drängte ihn nach oben und ließ ihn für einen Moment über die Oberfläche hüpfen. Er erkannte seine missliche Lage, als mehrere Tropfen um ihn herum mit lautem Zischen verdampften und in die Luft aufstiegen. Krampfthaft versuchte er nach unten zu gelangen, doch er konnte nicht gegen den mächtigen Druck ankämpfen, der sich ihm entgegenstämmte. Es wurde immer heißer und er begann bereits, ein Gefühl der Auflösung zu spüren. Vor seinem Blick verschwamm alles und sein Bewusstsein verlor sich in der glühenden Hitze.

Er wusste nicht, wie ihm geschah, als die Hitze mit einem Male zurückging, das Brodeln aufhörte und die dunklen Wände des Topfes um ihn herum verschwanden. Stattdessen befand er sich plötzlich in einem kleinen, silbernen Becken, das sich so rasch abkühlte, dass er sich schon fast wieder wohl fühlte. Das Becken war ovalförmig und bewegte sich zielgerichtet durch die Luft. Jedoch war dem kleinen Tropfen dieser entspannende Anblick nur für einige Augenblicke vergönnt; schon bald entdeckte er zwei rote Lippen, denen das silberne Becken entgegensteuerte. Als sie sich behutsam öffneten und er in die Dunkelheit dahinter blicken konnte, überkam ihn wieder ein bedrückendes Gefühl. Die leise Vorahnung, dass es noch dunkler und enger werden würde als er es bisher erlebt hatte, ließ den Moment unerträglich werden, in dem sich das Becken in das Innere des Schlundes bewegte, die Lippen sich schlossen und den Inhalt des Beckens vorsichtig abstreiften. Mit all den anderen floss der kleine Tropfen in ungewisser Finsternis eine weiche Fläche entlang und dann eine enge Röhre hinab. Er nahm nur wenig von dem wahr, was ihm widerfuhr, stellte aber fest, dass er nur eine kurze Strecke fiel. Schon nach wenigen Augenblicken fand er sich erneut in einem Becken wieder, in dem sich neben vielen anderen Tropfen auch zahlreiche weitere Stoffe sammelten. Abgesehen von den immer wieder nachkommenden Schüben an Wasser und Nahrungsmitteln war es an diesem Ort ruhig; zugleich wohnte ihm aber auch eine angespannte Atmosphäre inne. Als er einen angenehmen Platz in dem geräumigen Becken gefunden hatte, begann er vorsichtig nachzufragen: »Kann mir jemand sagen, wo ich hier gelandet bin?«

»Du bist an einem der verborgensten Orte, die es überhaupt gibt. Man nennt ihn den Magen und nur wenige sind schon einmal hier gewesen«, antwortete ein einsamer Tropfen unter ihm.

»Was ist so besonders an diesem Ort?«, fragte er nach und erhielt von einem anderen Antwort: »Viel Besonderes gibt es hier nicht zu sehen. Aber immerhin kannst du behaupten, einmal in einem menschlichen Körper gewesen zu sein.«

»Als ob das ein besonderes Vorrecht wäre«, gab ein anderer Tropfen herabfällig zurück, »ich würde viel lieber etwas bewirken, anstatt nur tatenlos hier zu warten, bis uns unser Schicksal ereilt.«

»Was wird mit uns geschehen?«, wollte der kleine Tropfen entsetzt wissen.

»Im Normalfall werden die allermeisten von uns schon bald wieder aus diesem Körper verschwinden. Und dann geht es hinunter ins Abwasser. Ende.«

»Ins Abwasser?! Ich dachte, ich wäre dem Abwasser entkommen!«

»Vergiss das. Niemals wirst du frei von dieser Gefahr sein; egal wo du dich befindest.«

»Das stimmt«, ließ eine lautstarke Stimme vernehmen, »aber man muss sich eben zur Wehr setzen. Nur wer gemeinsam mit anderen kämpft, wird im Leben etwas erreichen. Ihr alle habt euch doch bislang immer nur treiben lassen, stimmt's?« 

Alle, auch der kleine Tropfen, mussten dem zustimmen.

»Da ist es nicht verwunderlich, dass ihr alle so elend ausseht. Euer Dasein hat erst dann einen Sinn, wenn ihr es selbst in die Hand nehmt und ein Ziel erreicht. Deshalb schlage ich vor, dass wir zusammenhalten und uns mit vereinter Kraft aus dieser misslichen Lage befreien.«

»Und wie sollte das gehen?«, meldete sich gleich eine Stimme.

»Wir sind in einem Magen und ich weiß, dass man ihn dazu bringen kann, uns wieder auszustoßen. Er wird sich zusammenziehen und uns alle wieder durch die Röhre hinauspumpen, durch die wir gekommen sind. Wir gelangen zurück in die Freiheit und wenn wir schnell genug sind, werden wir an einem Ort ausgestoßen, an dem wir auf saftig grünen Boden stürzen. Alles, was wir tun müssen, ist, den ganzen Inhalt im Magen in Bewegung zu bringen. Danach wird sich alles so ereignen, wie ich es euch beschrieben habe.«

Es gab noch ein kurzes, aber unbedeutendes Hin und Her, dann aber wurde mit großer Entschlossenheit entschieden, dass man zumindest einmal den Versuch wagen wollte. Schnell erklärte der neue Anführer, was jeder zu tun hatte, dann nahmen sie auch schon ihre Positionen ein.

»Los! Gebt, was ihr geben könnt!« 

Von dem Befehl angesteckt, fingen die Tropfen an, in regelmäßigem Takt mal nach rechts, dann wieder nach links zu schwingen. Es brauchte nur ein paar dieser Bewegungen und schon hatte sich der gesamte Mageninhalt dem Treiben angepasst. Die große Masse schlingerte in dem schmalen Raum und fing sogar an, sich an den Rändern zu überschlagen.

»Jetzt nur nicht müde werden!«

Die Aufforderung schien unnötig, so eifrig führten die Tropfen ihre Bewegungen aus. Kaum einer schien noch Zweifel an dem grandiosen Vorhaben zu besitzen. Mit Freude dachte der kleine Tropfen bereits an das siegreiche Ende ihres Kampfes und an die Belohnung, die auf sie alle wartete.

Endlich, nachdem der Mageninhalt zu einer wild tobenden Masse geworden war, zeigten die Magenwände eine Reaktion. Zuerst war es nur ein leichtes Zittern, dann aber begannen sie sich zusammenzuziehen. Der Raum wurde enger und die Masse schob sich zusammen. Glücklich stellte der kleine Tropfen fest, dass er sich in diesem entscheidenden Augenblick ganz oben befand. Ihn würde es zuerst hinausspülen und auf den fruchtbaren Boden schleudern.

Nach kurzer Zeit war der Magen so eng geworden, dass der Pegel anstieg und die Masse erstmals wieder die Röhre erreichte, durch die sie alle gekommen waren. Alles hätte wunderbar funktioniert, wenn nicht plötzlich ein überraschendes Rauschen von oben ertönt wäre, das kurz darauf eine unangenehm heiße Tee-Flüssigkeit mit sich brachte. Sie schoss mit gnadenloser Geschwindigkeit durch die Röhre und versetzte augenblicklich jeden der Tropfen in eine lähmende Ruhe. Sogleich dehnte sich der Magen wieder aus und der Pegel ging zurück. Als der kleine Tropfen empört feststellte, was mit ihnen geschah, schmiegte er sich geistesgegenwärtig an die Röhre und schaffte es mit eisernem Willen, nicht mit den anderen Tropfen zurück in den Magen gespült zu werden. Völlig außer Kräfte hing er an der einsamen Stelle und hörte nur noch, wie sich die gerade noch so dramatischen Bewegungen im Magen vollends beruhigten. Ihr Aufstand war gescheitert, man hatte ihn einfach hinweggeschwemmt.

Er dachte eine Weile nach und kam zu dem Entschluss, dass sie alle zu wenig versucht hatten. Man konnte nicht einfach aufgeben, sondern musste weitermachen. Wenn er in seinem ganzen Abenteuer etwas gelernt hatte, dann war es Beharrlichkeit. Er hatte viele Niederlagen erlebt, aber immer war es weitergegangen. Und überhaupt: Nur wenn er aus eigener Kraft heraus lebte, konnte er seinem Leben eine Bedeutung verleihen. Die anderen mochten aufgeben; er wollte sein Ziel erreichen.

So blieb ihm nichts anderes, als sich alleine auf den Weg zu machen und sich die verbleinde Strecke der langen Röhre nach oben zu arbeiten. Er war sich bewusst, dass er niemals etwas Mühsameres und Aussichtsloseres vollbracht hatte, doch allein der Versuch gab seinem ganzen Dasein in diesem Moment einen Sinn. Mühsam rollte er sich nach oben und gewann in kleinen Fortschritten zunehmend an Höhe. Immer wieder musste er inne halten und darum kämpfen, nicht wieder abzurutschen. Doch noch schlimmer war die Fetstellung, dass er eine dünne Spur hinterließ und dabei seine Masse immer geringer wurde. Zugleich nahm auch seine Kraft ab. Jeder Milimeter wurde anstrengender und ließ zugleich seinen Lebenswillen dahinschwinden. Irgendwann merkte er, dass seine Kraft am Ende und er nur noch ein dünnes, armseliges Tröpfchen Wasser war. Es brauchte wohl nur noch einen kleinen Luftzug und er würde vollends vertrocknen. In diesem Moment war es auch genau das, was er wollte. Seit dem Absturz aus den Wolken hatte er nichts als Enttäuschung und Qual erlebt. Niemals hatte er die Erfüllung bekommen, die er sich von seinem Dasein auf der Erde versprochen hatte. Kein einziges Mal hatte er das Gefühl, dass er etwas bewirkte. Immer hatte er nur den Wunsch gehabt und musste dann feststellen, dass er nicht erfüllbar war. Und es war besser, zu sterben, als für unerfüllbare Träume zu leben. Mit diesem Gedanken ließ er von seinem Tun ab, legte sich nieder und verlor kurze Zeit später vollends sein Bewusstsein.

 

Nur mit Mühe gelang es dem Kameraden, den kleinen Tropfen zu wecken. Lange Zeit hatte er nur regungslos dagelegen; endlich schien wieder Leben in ihn hineinzukommen.

»Hallo, geht es dir gut?«

»Was? Wo bin ich?« Sofort spürte der kleine Tropfen die furchtbar drückende Enge und als er die Augen aufschlug, stellte er fest, dass es stockfinster war.

»Du bist in einer Drüse. Frage mich nicht, wie du hierher gekommen bist. Du musst jedenfalls ziemlich tatenlos herumgelegen haben, sodass der Körper dich eingezogen und hierher transportiert hat.«

»Warum fühle ich mich, als hätte ich einen neuen Körper?«

»Du wurdest mit Stoffen angereichert. Keine Angst, sie schaden dir nicht, sondern machen dich zu etwas Besonderem.«

»Davon merke ich wenig. Es ist unglaublich eng hier. Und heiß ist es auch.«

»Sei nicht unzufrieden. Sicher hat das alles einen Sinn.«

»Du glaubst also tatsächlich noch an einen Sinn? Dann hast du wahrscheinlich noch nicht soviel Erfahrung wie ich.« Der kleine Tropfen versuchte eine behagliche Position zu finden, es wollte ihm aber nicht gelingen.

»Zugegeben: Ich sitze hier schon sehr lange fest. Diese Drüse scheint selten benutzt zu werden. Aber ich weiß, dass der Tag kommen wird, an dem hier etwas geschehen wird.«

»Meinst du? Ich empfinde das hier nur als eine Qual.«

»Jeder Erfolg beginnt mit einem schweren Leid.«

Darauf wusste der kleine Tropfen keine Antwort. Darum beschloss er, den Worten des Kameraden Glauben zu schenken. Er dachte sich: Wenn alle bisherigen Wege ihn in die Irre geführt hatten, dann konnte wohl nur der schmale Kanal vor ihm der endgültige Ausweg sein, so unscheinbar er wirkte. Und wenn er es doch nicht war, dann hatte er nichts zu verlieren. Je mehr er diesem Gedanken nachging, umso sympathischer wurde er ihm und umso wohler fühlte er sich. Die Hitze wurde zu einer wohligen Wärme für ihn und der starke Druck erinnerte ihn ständig daran, dass ihn etwas ganz Besonderes erwartete. Die lange Zeit in der engen Drüse verging wie im Fluge.

Eines Tages war es soweit. Der freundliche Kamerad stieß ihn an und sagte aufgeregt: »Ich glaube, heute geschieht etwas. Der Körper muss eine starke Reizung erfahren haben. Ich spüre, dass hier Prozesse in Gang gekommen sind, die ich noch nie wahrgenommen habe. Und ich bin hier schon sehr lange.«

»Ein bisschen Angst habe ich noch«, stammelte der kleine Tropfen.

»Das gehört dazu. Was glaubst du, wie aufgeregt ich bin.«

Nach einiger Zeit waren die Regungen so stark, dass sie auch der kleine Tropfen wahrnehmen konnte. Schon bald bemerkten sie, wie auch der Kanal um sie herum zum Leben erwachte und die beiden Tropfen vorsichtig weiterschob. Es schmerzte ein wenig, als der Weg enger wurde, doch die Spannung auf das Ende der Strecke ließ ihn das unangenehme Gefühl vergessen.

Dann auf einmal hörte der Kanal auf.

»Verstehst du das?«, meldete sich der kleine Tropfen mit plötzlichem Zweifel.

»Ich weiß nicht so recht. Haben wir uns etwa getäuscht?«

Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, öffnete sich vor ihnen der Verschluss und grelles Tageslicht brach zu ihnen herein. Sie konnten sich kaum daran gewöhnen, da wurden sie erneut ein Stück weitergeschoben. Der vordere Tropfen ragte nun zu der Öffnung heraus.

»Und? Kannst du etwas sehen?«

»Ja. Das ist wirklich unglaublich! Wir sind direkt am Auge. Unter mir ist das Gesicht und ich kann die Hände des Menschen sehen. Sie halten einen Brief und...«

Er wollte weiter beschreiben, doch dann erfasste sie ein erneuter Schub und bugsierte ihn von der Öffnung weg, sodass er am Auge hinunterkullerte und der kleine Tropfen ihn nicht mehr sehen konnte. Diesen drückte es nun mit aller Kraft gegen die enge Öffnung. Er zögerte einen Moment, doch ihm war klar, dass er den richtigen Weg eingeschlagen hatte, was auch immer ihn erwartete. Er gab dem Druck nach, ließ sich durch die Öffnung pressen und erlebte einen Moment der völligen Entspannung, als er begann, gänzlich befreit die zarte Haut hinunterzurollen. Seine Wärme mischte sich angenehm mit der frischen Luft und er beeilte sich nicht, das Ende der Wange zu erreichen.

Er warf einen Blick nach oben und sah in das feuchte, schmerzerfüllte, zugleich aber dankbare Auge. Es war, als sagte es zu ihm:

»Danke, lieber Tropfen, du bist das Wertvollste, was ich je hervorgebracht habe.«

Tief berührt von diesem Eindruck wandte er sich zu den anderen Tropfen, die mit ihm gemeinsam über die Wange rollten. Niemals war er sich so wichtig vorgekommen und er genoss es, in diesem Moment der Ausdruck aller Gefühle dieses Menschen zu sein.

 

Wie eine Ewigkeit war die Zeit, die er am unteren Bereich der Wange hing und sich nicht mehr weiterbewegte. Die warme Sommersonne schien auf das Gesicht und der kleine Tropfen spürte, wie sie ihn durchdrang. Je länger die Wärme auf ihn einwirkte, umso kleiner wurde seine Gestalt und begann, sich langsam aufzulösen. Auch wenn er seine Form verlor, so machte er sich keine Sorgen darüber, dass die Sonne ihn immer näher zu sich zu ziehen begann. Schon bald war die Wange getrocknet und der Tropfen hatte sich von ihr gelöst. Sein weiter Weg durch die Lüfte und dem Himmel entgegen war angenehm und ohne jede Angst. Vielmehr genoss er den Anblick der großen Welt, durch die er sich gearbeitet, treiben lassen und gekämpft hatte und der er zuletzt ein so großes Geschenk gemacht hatte. Voller Zufriedenheit gelangte er zusammen mit vielen anderen Tropfen wieder zu einer herrlichen, weißen Wolke, von der er ein winziger, aber wichtiger Teil wurde. Für den Rest seines Lebens zog er mit ihr durch die Lüfte und genoss die warme Sonne und den angenehmen Fahrtwind. Er war rundum glücklich.


© 2005 Timo Braun

 

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