Der Lichthüter

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Als ich die irische Südwestküste erreichte, raubte mir der Nebel fast gänzlich die Sicht. Erst nachdem ich den Wagen am Ende der Straße abgestellt hatte und bis an die Felsen herangetreten war, erblickte ich ein Stück der reglosen Meeresfläche. Vor mir ging es steil hinab, die felsige Landzunge, auf der ich stand, griff wie eine mächtige Pranke in die Weite der See hinein. Das Gewässer hatte sich tief in den Klippensaum hineingefressen und die Steinformation unterhalb des Leuchtturms ausgespült.

Ich schritt, von fernem Möwenkreischen begleitet, an der Klippe entlang die kleine Anhöhe hinauf. Bald schälte sich aus dem Nebel der Leuchtturm in seiner ganzen Gestalt heraus. Er war aus dunkelgrauen, unförmigen Steinblöcken gemauert und mit schmalen Fenstern versehen, die tief im Gemäuer versenkt waren. Auf dem wuchtigen Rumpf saß das schmale Glashaus, aus dessen Innern ein Lichtkegel in der Morgendämmerung wanderte. Das Blechdach war flach und auffällig schwarz, auf ihm thronte ein langer Eisenmast. Vielleicht täuschte ich mich, aber mir schien, als läge um den Fuß des Masts eine lose Kette, deren Ende vom Rand des Daches herabhing. Augenblicklich überwältigten mich die majestätische Aura und der kaum zerstörbare Friede, den dieses alte Gebäude ausstrahlte.

Unter meinem Arm trug ich einen braunen Karton. Man hatte mir in dem Fischerdorf den Weg zum Leuchtturm erklärt, nicht ohne mir einen zweifelnden Blick mit auf den Weg zu geben. Die Frau im Gasthaus wollte wissen, was mich ausgerechnet dorthin trieb. So stellte ich mich als Kulturjournalist aus Dublin vor, der die Absicht hätte – und hierin lag meine Lüge – sich diese Gegend näher anzuschauen. Wenn ich die Landschaft auch durchaus reizvoll fand, so war sie doch keineswegs der Anlass meiner Reise. Es ging mir eigentlich um Patrick Kearney, der Mann, der uns den Karton in die Redaktion geschickt hatte und der, wie mir die Wirtin sagte, des abends öfter im Gasthaus zu sehen war, sonst aber in seinem Leuchtturm saß.

Ich überlegte, wie hoch die Spitze wohl sein mochte, als ich die letzten Meter bis zum Turm beschritt. Man konnte ohne Probleme bis zum Masten hinauf alles erkennen, selbst die hin und her schwenkende Lampe ließ sich aus dieser Nähe beobachten. Während ich das Gemäuer emporblickte und dabei weiter darauf zumarschierte, schien es sich mir entgegenlehnen zu wollen. Es war, als hätte mich der Turm erwartet. Nach wenigen Schritten befand ich mich vor der Tür.

»Sind Sie aus der Stadt?«

Die kräftige Stimme war aus dem Dunkeln hinter der halb geöffneten Stahltür gekommen. Ich blieb stehen und versuchte mehr zu erkennen.

»Ja. Aus Dublin«, sagte ich. »Ich bin Journalist vom …«

»Ach so ist das. Kommen Sie rein.«

Die Tür öffnete sich vollends und vor mir stand ein breitschultriger, großer Mann mit auffälligen Segelohren. Ich folgte seiner Einladung und gab ihm freundlich die Hand, die er ergriff und ihr einen schmerzhaften Druck verpasste. Für einen Moment blickte er auf den Karton unter meinem Arm. Anschließend drehte er sich um, bat mich, ihm zu folgen und stieg die Treppe hinauf. Besonders hell wurde es nie, nur ab und zu, wenn wir an einem Fenster vorbeikamen, fiel ein wenig trübes Morgenlicht herein. Der Alte kommentierte dann und wann die Eigenschaften des Gebäudes und fragte mich, weshalb ich mir die Mühe gemacht hätte, hierherzukommen. Ich antwortete nicht konkret, sondern verriet nur, dass es ein paar Unklarheiten zu regeln gäbe. Als wir endlich eine geräumige Stube erreichten, bat er mich, Platz zu nehmen. Bis auf die modrigen Holzdielen unter uns wirkte der Raum wie ein gemütliches Schlaf-, Wohn- und Arbeitszimmer in einem. Ich vermutete, dass wir uns direkt unter dem Glashaus befanden, da von oben her aus dem Treppenhaus viel Licht hereinfiel. Außerdem gab es hier mehrere Fenster.

»Bedauere, dass es hier so eng ist. Das ist eben kein Redaktionsgebäude.«

»Kein Problem, Mr Kearney … – Sie sind doch Mr Kearney«, prüfte ich vorsichtig. Er bejahte, lächelte zum ersten Mal und bot mir einen Tee an. Während er am Herd beschäftigt war, beobachtete ich ihn. Trotz seines Alters bewegte er sich sehr bestimmt. Seine Hände zitterten kein bisschen und schienen stets genau das zu tun, was er beabsichtigte. Dass er mir während des Teekochens ständig den Rücken zuwandte und dabei keinen Ton sagte, verriet mir, dass er auf meinen Einsatz wartete. Doch ich blieb ebenso geduldig wie er.

»Sie wollen sicher auch einen Schuss Rum dazu. Das gibt dem Tee das gewisse Etwas.«

Er stellte die Tasse auf den Tisch, wo ich auch den Karton abgestellt hatte. Dann setzte er sich in seinen Sessel und blickte schlürfend in den Nebel hinaus.

»Also. Was ist der Grund Ihres Besuches?«

»Leben Sie hier allein?«

»Sehen Sie noch jemanden?«

»Sie sind also den ganzen Tag in diesem Turm.« Er antwortete nicht. »Das muss ganz schön langweilig sein.«

»Kommt drauf an, wie man seine Zeit nutzt.« Damit warf er zum ersten Mal einen herausfordernden Blick auf den Karton. Ich ging nicht sofort darauf ein, sondern fragte ihn nach seinen Tätigkeiten. Als er mir von seiner künstlerischen Ader, seinem Hang zum Schreiben und seinen lyrischen Ergüssen bei Mittagssonne auf dem Segelboot erzählte, griff ich langsam nach dem Karton und sagte ohne Umstände:

»Sie wissen ja, weshalb ich hier bin.«

»Selbstverständlich«, gab er zurück und zeigte keine Nervosität.

Ich hob den Deckel, nahm einen der Papierbögen heraus und betrachtete ihn mit anerkennendem Nicken.

»Schön, was Sie uns da geschickt haben. Ist das von Ihnen?«

»Was, wenn es so wäre?«

»Ich würde Sie fragen, was Sie zu dieser Kurzgeschichtensammlung inspiriert hat. Und ich würde fragen, wann sie entstanden ist.«

Er zögerte nicht sehr lange und erklärte mir, dass Die Leute vom Fischerdorf – so lautete der Titel der Sammlung – über viele Jahre hinweg entstanden sei. Die ungewöhnlichen Menschen in dieser Gegend hätten ihn inspiriert. Ich hörte ihm gewissenhaft zu, nicht ohne ein Gefühl von Langeweile. Vielleicht hatte ich einfach mehr erwartet und musste nun annehmen, dass die Reise bald ein unspektakuläres Ende nehmen würde. Normalerweise suchte unsere Zeitung eine Woche vor Ende der Einreichungsfrist des Peter Tremayne Awards niemals einen Teilnehmer auf. Doch der Inhalt des Kartons hatte die Redaktion verunsichert. Die handgeschriebenen Blätter waren bleich und angestaubt, die Schrift auf dem Absender glich der auf den Manuskripten kein bisschen. Und dann war da noch die Sache mit der letzten Überschrift. ›Der Beitrag wäre längst rausgeflogen‹, hatte der Chef gesagt, ›wenn die Geschichten nicht so verteufelt gut wären und die übrigen Beiträge dieses Jahr so lächerlich.‹ Und da dem Sieger eine mehrteilige Veröffentlichung in unserer Zeitung winkte, lag ihm alles daran, möglichst schnell die Autorenschaft der sechs Kurzgeschichten zu klären. Diese Aufgabe hatte ich nun so gut wie erledigt, nur zwei Dinge galt es noch zu überprüfen:

»Haben Sie das Paket selbst abgeschickt?«

Er runzelte die Stirn und dachte kurz nach. Dann fragte er, was diese Frage solle und erklärte:

»Ich habe nur den Stapel bei der Post abgegeben und einen Zettel mit der Zieladresse. Ich kenne die Frau dort sehr gut und weiß, dass sie sich um den Rest kümmert.«

Ich nickte zufrieden.

»Sagen Sie mir noch eines: Was sollte dieser letzte Bogen mit der alleinstehenden Überschrift?«

»Alleinstehende Überschrift?«

»Sie erinnern sich nicht?«

»Wie gesagt: Die Geschichten sind zum Teil sehr alt.«

»Nun, es wirkt so, als hätten Sie noch eine letzte Geschichte schreiben wollen, nach der Überschrift aber abgebrochen.«

»Zeigen Sie her«, sagte er und riss mir das Blatt aus der Hand. Für einige Sekunden kniff er die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, um dann seinen Blick in ein wohlwissendes Lächeln aufzulösen. »Ah, das meinen Sie! Jetzt verstehe ich …«

»Ich aber nicht. Was hat es mit dem ›Lichthüter‹ auf sich? Wieso haben Sie die Geschichte nicht mehr aufgeschrieben?«

Er druckste herum, dann versuchte er mir klarzumachen, dass er nur für den Anfang eine Idee gehabt habe, zu der ihm nie ein Ende eingefallen sei.

»Aber den Titel hatten Sie?«

»Ja, ein fester Begriff, den man im Dorf kennt.« Ich schaute ihn neugierig an. »Sehen Sie«, sagte er, »ich wollte eine Geschichte über einen Mann schreiben, der vor vielen Jahren hier gelebt hat. Natürlich wäre das meiste erfunden gewesen.« 

»Erzählen Sie mir davon.« Ich legte das Blatt in den Karton und lehnte mich zurück. Er runzelte die Stirn, rutschte in seinem Sessel hin und her und umklammerte die Tasse fester.

»Ich weiß nicht, was das alles soll, aber wenn Ihnen so sehr daran liegt, bitte schön.« Er versuchte, einen onkelhaft erzählerischen Ton in seine Stimme zu legen. 

»Der Mann, von dem die Geschichte handelt, war ein Dichter und lebte vor vierzig Jahren in diesem Dorf. Sein Name war … wie war doch gleich sein Name? Verflixt, ich habe das vergessen. Man nennt ihn immer nur den ›Lichthüter‹. Nicht dass Sie denken, ich kannte ihn. Nein, der Lichthüter war tot, bevor ich herkam. Er war mein Vorgänger. Niemand interessiert sich mehr für diesen alten Turm. Sehen Sie: Heute funktioniert das alles elektrisch. Man schaltet das Ding an und das Licht schwenkt automatisch durch die Gegend. Ich kann sogar die Schiffe anfunken. Damals hatte ein Leuchtturm eine andere Bedeutung. Man musste hinaufklettern, die Lampe anschalten und regelmäßig Petroleum nachfüllen. Und wehe, man machte einen Fehler. Die Schiffe waren auf einen angewiesen … Ach, was erzähle ich Ihnen von diesen Dingen? Das haben Sie nun davon, dass Sie mich reden lassen.

Der Lichthüter war der verlässlichste Leuchtturmwärter, den es je gab. Man sagt, er habe seinen Turm nie länger als einen halben Tag verlassen, seit er dort eingezogen war. Das hieß, dass er auch nie weiter wegging als dreimal die Woche ins Dorf. Er redete mit niemandem. Er kaufte sich nur das Nötigste ein und ging wieder in seinen Turm zurück. Die Fischer beobachteten ihn auch häufig, wie er mit einem kleinen Segelboot aufs Meer hinausfuhr. Sehen Sie da unten: Dieser kleine Pfad führt vom Leuchtturm aus direkt zum Wasser hinunter. Da stand sein Boot. Er nahm nur Papier und Tinte mit und wenn er wieder zurückkam, hatte er ein neues Gedicht dabei. So erzählt man das zumindest im Dorf. Es waren keine Liebesgedichte. Richtige Kampfgedichte waren das. Überall ›gut‹ und ›böse‹, ›Hass‹, ›Zorn‹, ›Gewalt‹. Es ging nie um Menschen, sondern immer um die Natur. Er beschrieb die Natur als ein Monstrum, ein Ungestüm mit geöffnetem Rachen und wilden Klauen. Und er selbst war der Gegenspieler. Jedes Gedicht war eine Schlacht zwischen ihm und der Natur, ein tobender Kampf ohne Kompromisse. Aber das kann man ja verstehen.«

Er hielt inne. Ich hatte mittlerweile mein Notizbuch hervorgeholt und eifrig mitgeschrieben. Da er nicht weiterredete, blickte ich empört auf.

»Was ist, Mr Kearney?«

»Das war der Anfang der Geschichte.«

»Da war aber noch etwas. Sie sagten, Sie könnten ihn verstehen. Wieso?«

»Also schön. Wenn Sie das unbedingt hören wollen: Der Lichthüter – so erzählen es die Leute – der Lichthüter war nicht immer alleine gewesen. Bevor er an diesen Ort kam, soll er Vater einer Familie gewesen sein. Doch eines Tages, nachdem er mit seiner Frau und den Kindern aufs Meer hinausgefahren war, tobte ein Sturm und raffte sie ihm alle hinweg. Er überlebte. Er trieb an einem Stück Holz hängend an Land und hasste von nun an die Natur von ganzem Herzen. Es gab wohl nur eines, was er mehr hasste: sich selbst. Und von da an war sein Leben nichts anderes als ein Krieg zwischen zwei Fronten, die er beide hasste. Nicht ein Schiff, so schwor er sich, würde die Natur ihm noch wegnehmen. Nicht einen Menschen durfte das Meer wieder vor seinen Augen verschlingen.«

Kearney hörte auf zu erzählen. Leise schlürfte er an seinem Tee und schaute zufrieden vor sich hin. Ich wartete geduldig und hoffte, er würde weitersprechen. Doch er tat es nicht. Er schlürfte nur. Schließlich fragte ich:

»Und weiter? Hat der Lichthüter seinen Schwur gehalten?«

Er stellte seine Tasse ab und lächelte wieder.

»Mehr weiß ich nicht. Sie sind ganz schön neugierig.«

»Was ist mit seinen Gedichten? Gibt es die noch?«

»Nicht dass ich wüsste. Wahrscheinlich sind die irgendwann verlorengegangen.«

»Wie ist er gestorben?«

Jetzt erhob sich Kearney, nahm die beiden leeren Tassen und stellte sie ins Spülbecken. Während er das Wasser laufenließ, sagte er:

»Jetzt reicht es aber. Ich habe zu Ihrem albernen Wettbewerb sechs wunderbare Erzählungen eingeschickt. Das muss ja wohl reichen. Was interessiert Sie da eine Geschichte, die ich gar nicht geschrieben habe?« Darauf hatte ich keine gute Antwort. Ich packte nervös den Notizblock ein und stammelte etwas von »Autor verifizieren« und dass dies kein alberner Wettbewerb, sondern der Peter Tremayne Award sei, bei dem es um ein hohes Preisgeld gehe. Darauf gab er zurück:

»Wenn Sie mutig wären, würden Sie zugeben, dass Sie selbst gerne Autor wären und groß rauskommen wollen. Das sehe ich ohne Brille Ihrer Nasenspitze an.« Ich wehrte ab. Die unerbittliche Maschinerie der selbstgerechten Verlage sei nichts für mich, sagte ich. Ich sei mit meinem Journalistenjob sehr zufrieden.

Ich merkte, dass es Zeit für mich wurde, zu gehen. Vermutlich hätte er noch herausgefunden, dass ich vor einigen Jahren bereits einen Roman geschrieben hatte, der aber in den Fluten der Manuskripteinsendungen in den Verlagen gnadenlos untergegangen und bis heute unveröffentlicht geblieben war. Seitdem war mir keine faszinierende Idee für ein neues Projekt gekommen. Deswegen war ich froh, dass ich meine Chance als freier Mitarbeiter einer großen Zeitung nutzen und mich zum angesehenen Kulturjournalisten hocharbeiten konnte. Das reichte wenigstens zum Leben.

»Mal sehen, wie der Wettbewerb ausgeht. Sie hören von uns, Mr Kearney.«

 

Als ich ins Dorf zurückkam, war es mittlerweile ein wenig sonnig geworden. Die Wirtin kündigte jedoch an, dass dies nur den Nachmittag über anhalten würde. Der Wind verspräche ein kräftiges Unwetter. Ich bestellte einen Seekarpfen und sagte der Wirtin, dass ich gleich nach dem Essen wieder heimfahren müsse. Sie beeilte sich und brachte mir nach einer Viertelstunde einen prallgefüllten Teller mit Fisch und Kartoffeln. Während ich aß, setzte sie sich zu mir und begann, mir Fragen über mein Treffen mit Kearney zu stellen. Ich ließ mir eine langweilige Geschichte einfallen, woraufhin sie nickte und schon das Thema wechseln wollte. Doch als ich zum Schluss noch sagte: »Der Lichthüter scheint hier ja eine ganz schön bekannte Figur zu sein«, schaute sie auf. 

»Hat Kearney Ihnen etwa davon erzählt?«

»Ist daran etwas besonders?«

»Na ja. Kearney erzählt viel, wenn der Tag lang ist. Abends unterhält er mir immer die ganze Gesellschaft mit seinen Lügengeschichten. Aber von dem ›Lichthüter‹ hat er nie erzählt. Das ist eigentlich die Geschichte der alten MacHugh.«

»MacHugh?« Ich legte das Besteck beiseite.

»Eine Verrückte. Lebt mit ihrer Tochter am Rand des Dorfes. Kommen Sie ihr bloß nicht zu nahe, sonst hören Sie für den Rest des Tages nur noch Gruselgeschichten.« 

Ich bedankte mich für das Essen, buchte spontan ein Zimmer und ließ mir von ihr den Weg erklären. Den Karton legte ich auf den Rücksitz und fuhr die Straße zum Ende des Dorfes hinunter.

Als ich vor der schäbigen Tür des beschriebenen Hauses stand und klingelte, dachte ich mir rasch einen Vorwand aus.

»Wer sind Sie denn?« Eine hagere Frau mit Schürze, zerzausten Haaren und abstehenden Ohren stand in der Tür.

»Guten Tag, Mrs MacHugh«

»Wir brauchen nichts.«

»Ich möchte gerne zu Ihrer Mutter.«

»Wer will das?«

»Ich bin Reporter. Ihre Mutter lebt doch schon länger hier. Vielleicht kann sie mir mit einigen Informationen weiterhelfen.«

»Bestimmt nicht. Sie ist geisteskrank, müssen Sie wissen.«

»Ich möchte es dennoch gerne versuchen.«

»Tut mir leid. Aber für sowas habe ich heute wirklich keine Nerven.«

»Ich würde natürlich für jede Mühe aufkommen.« Damit zog ich demonstrativ meine Geldbörse hervor.

Die Frau ließ mich herein und führte mich wortlos in ein kleines Zimmer. Nur ein Bett stand an der nackten Wand, daneben ein Sessel und ein Nachttisch, auf dem sich die Bücher stapelten: Homer, Vergil, Marlow, Shakespeare, Poe und andere Klassiker. Unter den Büchern lugte ein Zipfel des Schriftzuges unserer Zeitung hervor.

Die Alte saß aufrecht im Sessel und senkte Ovids Metamorphosen, als ihre Tochter mich ankündigte. Hinter einer übertrieben großen Brille schauten mich runde Augen an und ein fast zahnloser Mund lächelte mir entgegen.

»Ein Botschafter! Welch seliges Gefüge des Schicksals. Sie kommen gerade richtig. Ich wusste, Sie würden kommen. Die Seherin in mir hat es gesprochen. Schon am Morgen, ehe der Nebel sich lichtete, hat sie gesprochen. Sie kündigte Großes an. Das kommt mir gelegen. Wenn man den ganzen Tag hier alleingelassen wird, kann es einem sehr langweilig werden, wissen Sie … Lydia, bring dem Herrn doch mal ein Glas Wasser. Oder Tee? Oder Saft? Ich trinke ja so unheimlich gerne Saft. Aber dieser Dorfarzt – Teufel! –, dieser widerspenstige Abgesandte der Unterwelt, hat es mir verboten. Ich sage Ihnen: Er steht im Bunde mit dem Rat der Peiniger – und mit meiner Tochter.«

Ich bat um ein Glas Wasser, trat näher und schüttelte ihr die Hand, eine ausgesprochen weiche und warme Hand.

»Mrs MacHugh, ich bin wegen einer bestimmten Sache hier. Man sagte mir, Sie wüssten darüber Bescheid.« Weiter kam ich nicht. Sie erzählte mir, wie sie es selbst miterlebt habe, als der Schwager des britischen Kronprinzen das Dorf besuchte oder wie ein kleiner Junge von seinem Vater fast zu Tode geprügelt wurde oder wie ein wilder Sturm die Dächer des Dorfes wie Blätter hinforttrug. 

Ich musste sie lauthals unterbrechen und ihr in einem Satz mein Anliegen vortragen, ehe sie innehielt. Die Worte »Leuchtturm« und »Lichthüter« ließen ihre Augen weit aufgehen.

»Was ist, Mrs MacHugh? Wissen Sie etwas darüber?«

»Aber ja. Ich kannte den alten Lichthüter.«

»Können Sie mir etwas über ihn erzählen? Wie ist er gestorben?« Ich holte mein Notizbuch hervor.

»Oh, fragen Sie mich das nicht! Bitte, fragen Sie mich das nicht!« Sie schaute zu ihrer Tochter hinüber. »Lydia, wie spät ist es?«

»Gleich vier«, kam es gereizt zurück.

»Das ist spät. Ich möchte jetzt nicht mehr weitererzählen.«

»Warum nicht?«

»Meine Tochter wird furchtbar schimpfen. Ich soll den Leuten keine Angst machen.«

»Mir machen Sie keine Angst.«

Ich brauchte einige Überredungskünste, ehe ich sie davon überzeugte, dass sie weitersprechen solle. Doch was sie in Wirklichkeit wollte, war etwas ganz anderes:

»Gut – um Himmels Willen – ich erzähle Ihnen die Geschichte. Aber nur unter einer Bedingung: Sie müssen mich mitnehmen.«

»Mitnehmen? Wohin?«

»Wohin, wohin, Unverständiger! Zum Leuchtturm!«

Die Tochter wollte eingreifen und die ganze Sache beenden, doch die Mutter bestand auf ihrem Wunsch. Nachdem ich ihr versprochen hatte, gut aufzupassen, sie wieder rechtzeitig zurückzubringen und ihr einen Geldschein zusteckte, ließ sie uns gehen.

Die Alte lachte und als sie in einen dicken Mantel gehüllt auf dem Beifahrersitz saß, bedankte sie sich bei mir.

»Endlich einmal raus aus diesem Kerker des Alltags. Nichts ist beglückender, heilsamer und menschenwürdiger, als der Seele zur Entfesselung zu verhelfen. Glauben Sie mir, seliger Botschafter, Sie haben ein wahrhaft göttliches Werk getan.« 

Ich überlegte, ihr den Karton zu zeigen, unterließ es aber vorerst.

Wir fuhren zum Leuchtturm hinauf. Schon im Dorf waren die ersten Regentropfen gegen die Windschutzscheibe gefallen, während der Fahrt prasselte es mehr und mehr. Ich musste auch die Scheinwerfer einschalten und als wir beim Leuchttum ankamen, war es fast dunkel geworden. Wir stiegen aus und der Wind blies uns den Regen ins Gesicht. Die alte Frau schien das nicht zu stören. Mutig schritt sie los, gefährlich nahe an der Klippe entlang. Ich eilte ihr nach und ließ sie nicht aus den Augen. Unter uns schlugen die Wellen gegen den Felsen und spritzten vor unseren Gesichtern in die Höhe. Das Meer warf einen Wasserberg nach dem anderen gegen die Klippe und schien in seinem Kampf gegen das Festland keinen Moment aufgeben zu wollen. Das Rauschen des Meeres und der heftige Wind waren so laut, dass ich kaum etwas verstand, wenn Mrs MacHugh mich anblickte und mit glühenden Augen über das Unwetter schalt.

Als wir etwa zwanzig Meter vom Turm entfernt waren, blieb sie stehen und blickte auf das tobende Meer hinaus.

»Ja, genau so war es.« Sie drehte sich zu mir um und packte mich an den Schultern. »Hier war es. Es war genau so ein Wetter wie heute. Mit dem Fahrrad war ich unterwegs. Und da hat mich der Sturm überrascht. Wie ein Dieb in der Nacht, nein, wie das Unheil am Tag des Jüngsten Gerichts. Oh, wie ich dieses Wetter hasse! Wie ich dich hasse, Boreas, der du deine Fittiche ausbreitest und über die Erde fegst! So wie heute war es und noch schlimmer. Er kam noch viel plötzlicher und gewaltiger als heute. Der strahlende Sonnenschein verwandelte sich auf einen Schlag in tiefstes Gewittertreiben. Die Wellenberge waren so hoch, als wollten sie den Olymp erreichen. Sie stürzten sich bis hinauf an die Wand des Leuchtturms, schlugen mit Höllengewalt dagegen und wer weiß, ob sie nicht manches Mal den Widerstand gebrochen hätten, wenn sie die Hand des Allmächtigen nicht gezähmt hätte.« 

Sie hatte angefangen, ihre Erzählungen mit wilden Gesten, bald mit schauspielerischen Bewegungen zu artikulieren. Als sie bei der Beschreibung der Wellen ihre Arme weit ausbreitete und sich wie ein Ungeheuer über mich beugte, erkannte ich, dass sie unter ihrem Mantel nur ein Nachthemd trug. Das schien ihr nichts auszumachen. Sie rannte an mir vorbei, zeigte auf den Boden und sagte: »Hier, sehen Sie? Hier ließ ich mein Fahrrad zurück und rannte, vom Regen durchtränkt, den Hang hinauf. Und da sah ich es! Da oben, schauen Sie! Das Licht brannte nicht. Das ewige Feuer war erloschen. Finsternis, wohin man blickte. Von Schrecken gepeinigt erhob ich meine Augen und späte aufs Meer hinaus – da sah ich noch etwas. Ganz hinten am Horizont. Schauen Sie, dort hinten sah ich etwas flattern. Ein Segel. Ganz sicher, es war ein Segel und es bewegte sich auf die Felsen zu. Ich war noch immer wie erstarrt, wollte aber den Turm erreichen und mich in Sicherheit bringen. Doch dann hörte ich auf einmal etwas. Ein Fluchen, ein lautes, bitteres Fluchen. Es kam vom Pfad her. Dann stürmte er herbei. Oh ja, er stürmte, fluchte, brüllte. Wie ein Tier aus dem Wasser kam der Lichthüter heraufgestiegen und eilte die Treppe zum Turm hinauf. Er kam von dort, sehen Sie? Er muss unten gewesen sein bei seinem Boot. Wahrscheinlich war er hinausgefahren und das Unwetter hatte ihn überrascht. Es war ja noch gar nicht spät. Aber das Unwetter kam so plötzlich. Ich hörte, wie der Lichthüter brüllte: ›Du bezwingst mich nicht! Du nicht! Nicht noch einmal! Dieses Schiff gehört dir nicht!‹ 

Eine Weile sah ich nichts von ihm und schaute nur am Turm hoch. Ein Schauer überfiel mich, denn die Scheibe war eingeschlagen. Der Sturm hatte an der einzig verwundbaren Stelle des mächtigen Turmes zugeschlagen und war mit seiner vernichtenden Gewalt in sein Inneres eingebrochen. Dort hatte er sein Werk mit kalter Boshaftigkeit vollendet, indem er die Lampe, das ewige Licht, mit höllischem Lärm zertrümmerte.

Dann sah ich, wie der Lichthüter oben auftauchte. Ich sah, wie er mit einer umgehängten Petroleumlampe das zerstörte Licht entdeckte und noch lauter schrie: ›Fluch dir, Ungeheuer! Fluch dir!‹ Das Schiff am Horizont kam näher. Er sah es mit Schrecken. Durch den Lichtschein konnte ich sein Gesicht sehen. Seine Augen flammten auf, Wut und Entschlossenheit waren in sein Antlitz hineingemeiselt wie es kein Künstler hätte vollbringen können.

Aufbrausend ging er davon, verschwand im Treppenhaus und tauchte nach kurzer Zeit wieder auf. Er stieg aus dem Glashaus auf die Plattform hinaus. Um eine Schulter hing eine dicke Eisenkette mit einem geschlossenen Krug daran, um die andere die Petroleumlampe.

›Niemals! Du wirst nicht siegen, niemals!‹ brüllte er hinaus, sein Gesicht triefend vor Regen, die Haare zerzaust vom Wind und die Hände zitternd vor Kälte. Die Lampe schaukelte heftig und er musste sich krampfhaft am Geländer festhalten. Dann sandte das wetterliche Ungetüm den ersten Blitz. Bei dem ohrenbetäubenden Donner schaute er nach oben und stieß noch lautere Flüche aus. Dabei riss es seinen Körper vor und zurück. Er nahm seine Kette von der Schulter, schwang sie wie ein Lasso und warf sie auf das Dach hinauf. Ein Ende hielt er fest, das andere schlang sich um den Masten. 

›Schau her!‹, schrie er. ›Mich wirst du nicht besiegen, mich nicht!‹ Und er kletterte an der Kette das Dach hinauf. Seine Füße rutschten ab, er schwankte hilflos in der Luft, aber er ließ die Kette nicht los. Mit der puren Kraft seiner Arme zog er sich an ihr hoch und umgriff den Fuß des Masten, als sei es die Ferse des Teufels. Der schickte einen neuen Blitz und ließ den Wind mit noch gröberer Gewalt an seinem Gegenspieler zerren. Doch er stand auf und streckte seine mächtige Brust hinaus. ›Ha! Versuch es weiter, Ungeheuer! Niemals bezwingst du mich, du nicht!‹ 

Ich schaute wieder aufs Meer und sah das Schiff im Licht der Blitze. Es hatte zwei Segelmasten und steuerte geradewegs auf die Klippen zu. Ja, ich sah es ganz genau vor mir. Zwei Segel und eine hölzerne Meerjungfrau, die uns göttlichen Beistand zulächelte.

Dann wandte ich mich voller Entsetzen wieder dem Leuchtturmdach zu. Was hatte der Lichthüter nur getan! Er hatte sich bei dem peitschenden Sturm an den Eisenmasten gestellt und die Kette mehrmals um seinen Körper gebunden. Er sah aus wie einer, den man auf dem Scheiterhaufen an den Holzpflock gefesselt hat. Nur seine Arme waren frei. Und dann geschah das Unglaubliche: Er öffnete den Krug, hielt ihn wie eine Opferschale in die Höhe, schaute ihn mit glühenden Augen an und schüttete sich das Petroleum über seinen Körper. Jetzt fluchte er nicht mehr. Er nahm die Petroleumlampe, streckte sie dem Unwetter entgegen, weihte sie seinem schrecklichen Vorhaben und brüllte seinen letzten Satz: ›Das ist dein Ende, dunkler Schlund!‹ Und dabei ließ er die Lampe an seinem Kopf zerbersten. Augenblicklich schoss das Feuer von seiner Stirn bis zu seinen Fußspitzen hinab. Es loderte, von den Windstößen heftig gezerrt. Er breitete seine brennenden Arme wie einen Segelmasten aus und ließ einen laut hörbaren Siegesschrei ertönen. Es sah aus wie eine Fackel, wie eine Fackel, die der Koloss als Zeichen des Triumphes überall sichtbar emporstreckt: Der Leuchtturm war der Koloss und er, der Hüter des Lichts, war die Fackel.« Die letzten Worte sprach Mrs MacHugh mit großer Feierlichkeit. Sie hatte ihre Hände in Richtung des Leuchtturms emporgehoben, so als könne sie mit ihnen die Metaphern ergreifen, die sie formulierte. Dann atmete sie durch und spazierte ein Stück näher an die Klippe heran.

»Ich blickte wieder auf das Meer«, setzte sie bedächtiger fort. »Das Schiff war bedrohlich nahe an die Felsen herangekommen. Die Segel waren weiß und tanzten wild an der Stange. Doch dann, ich rieb mir die Augen, sah ich, wie das Boot seinen Kurs änderte. Es musste sich gegen die Wellen stemmen, doch es ließ sich nicht von ihnen hinwegreißen, sondern drehte sich auf der Stelle und fing an, sich von den drohenden Felsen abzuwenden. Und heftig gegen die Wellen ankämpfend, verschwand es im fernen Dunkel.

Auf dem Dach des Turmes aber war das Flackern bald zu Ende. Feurige Fetzen wurden vom Wind hinweggetrieben und in Richtung Dorf getragen. Von dem kräftigen Körper des Lichthüters waren bald nur noch ein paar Überreste zu sehen. Das Feuer erlosch und es wurde wieder dunkel um mich.«

Mrs MacHugh machte riesige, geisterhafte Augen, als sie die Erzählung beendete. Für eine Weile bewegte sie sich nicht, sondern starrte in den Himmel über dem Leuchtturm und schien all die Ereignisse noch einmal durchzuspielen. Schließlich wandte sie sich um, ging auf mich zu und schaute mich so entzaubert an, als wäre sie mit einem Male wieder in der Realität angekommen.

»Können wir wieder gehen? Es ist kalt geworden«, sagte sie in nüchternem Ton.

»Lassen Sie uns doch schnell in den Leuchtturm …«

»Kommen Sie. Ich will ins Dorf zurück.« Sie setzte sich in Bewegung, ohne einen Widerspruch zuzulassen. Bald erreichten wir das Auto und stiegen ein. Man hörte, wie der Regen aufs Dach prasselte. Aber es tat gut, vor dem Wind und der Nässe geschützt zu sein.

Mrs MacHugh hüllte sich enger in ihren Mantel und sagte zitternd: »Grundgütiger, das wird eine schlimme Erkältung nach sich ziehen, fürchte ich.«

»Wieso wollten Sie nicht in den Turm? Mr Kearney hätte uns sicher einen warmen Tee angeboten.«

»Ja, sicher. Der gute Kearney. Sie brauchen mir nichts von seiner Gastfreundschaft zu erzählen. Früher war ich oft bei ihm. Vor unzähligen Jahren war das; da waren wir sozusagen noch jung. Ich war fast jeden Tag bei ihm.«

»Tatsächlich?«

»Natürlich. Damals glich ich noch der schönen Helena, als sie den Paris betörte. Allerdings war ich noch sehr unerfahren. Ich hatte nur wenige Geschichten zu erzählen.«

»Sie haben Kearney Geschichten erzählt?«

»Selbstverständlich. Dieser elende Schurke ließ mich glauben, ich sei eine verführerische Erzählerin. Nur um mich gefügig zu machen. Als ich dann im Gasthaus entdeckte, dass er vor versammeltem Volk meine Geschichten verhunzte, war es aus mit uns.«

Ich wollte gerade den Schlüssel umdrehen, da stockte ich plötzlich und schaute sie fragend an.

»Er kannte also Ihre Geschichten. Und er schrieb sie auf?«

»Unsinn. Dieser Nichtsnutz kann nur seine Lampe da oben bedienen und falsche Versprechungen machen. Der hat keine Ahnung vom Schreiben. Ich habe die Geschichten selbst aufgeschrieben. Eine ganze Serie habe sogar ich verfasst – nur für den Lichthüter hat es nicht mehr gereicht. Als ich Kearney, diesen falschen Hund, entlarvt hatte, wollte ich nie mehr etwas schreiben. Da habe ich sie alle in einen Karton gepackt und seitdem nicht mehr angesehen.«

Aus den Augenwinkeln spähte ich vorsichtig auf die Rückbank, wo der Karton noch immer auf seinem Platz lag. Die Alte bemerkte meinen Blick nicht und sagte, ich solle endlich losfahren. Während der Rückfahrt erzählte sie mir, dass der Karton sicher in einem Schrank verstaut sei und nur ihre Tochter von dem Ort wisse.

»Ihre Tochter weiß von den Geschichten?«

»Nicht von den Geschichten, nur von dem Karton. Nein, der elende Kearney ist der Einzige, der etwas von mir gelesen hat. Aber der interessiert sich schon lange nicht mehr für uns. Vor lauter Saufen hat er sogar Schulden bei unserer gemeinsamen Tochter gemacht. Aber letzte Woche, da habe ich durchs Fenster gesehen, wie sie auf der Straße miteinander gesprochen haben, Lydia und er. Und sie hat mir nichts verraten. Ich sage Ihnen: Er hat sich mit ihr gegen mich verschworen, dieser Lump. Die Rache der Erinnyen komme über ihn!«

»Haben Sie Angst?«

»Ich? Angst? Betrug rächt sich, mein Lieber. Betrug rächt sich.«

Ich schluckte. Den letzten Teil der Strecke schwiegen wir. Ich hielt vor dem Haus und sie bedankte sich für den wundervollen Abend. Ich konnte den Dank nur zurückgeben. Sie schnallte sich los und ich richtete meinen Blick wieder zu dem Karton hinter mir. Für einen Augenblick glaubte ich, dass sie ihn bemerkt haben musste. Doch sie stieg unbeirrt aus dem Wagen.

»Es war wunderbar mit Ihnen.«, sagte sie, als sie die Haustür öffnete. »Was wäre mein Leben ohne Menschen wie Sie.« Damit ging sie davon.

Ich schaute ihrem flatternden Mantel nach und konnte mich nicht dazu entschließen, loszufahren. Nachdenklich blieb ich am Steuer sitzen und beobachtete die Regentropfen auf der Windschutzscheibe. Dann drehte ich mich um, griff nach hinten zum Karton, stieg rasch aus und rief ihr nach: »Warten Sie, Mrs MacHugh!«

Sie blieb stehen und lächelte mich kaum überrascht an, als ich sie erreicht hatte. Ich brauchte nicht viel zu erklären, als ich ihr den Karton übergab.

»Ich sagte ja, Sie sind ein guter Mensch«, gab sie zurück. »Ganz im Gegensatz zu meiner Tochter und diesem zahlungsunfähigen Gauner. Mit meinen Geschichten seine Schulden bezahlen! Dumm sind sie, wenn sie nicht wissen, dass ich den Wettbewerb Ihrer Zeitung bestens kenne.«

»Was haben Sie nun vor?«

»Was soll ich vorhaben? Alles ist gut, wie es ist. Soll er woanders seine Schulden auftreiben.« Sie wandte sich ab und ging zur Tür. Dann warf sie mir noch einen letzten, vertraulichen Blick zu: »Alle denken sie, ich sei nicht mehr ganz bei Trost. Sollen sie denken. Mir geht es gut. Geschichten erleben ist immer größer als Geschichten erzählen. Alle Dichter gehen zugrunde, merken Sie sich das. Das ist ein Gesetz. Ich will nicht zugrunde gehen. Dafür habe ich noch zu viel vor.«

Sie verabschiedete sich, forderte mich auf, zu tun, was ich für richtig hielte, und verschwand im Haus.

 

Einige Wochen später stand der Sieger des Peter Tremayne Awards fest: Die Erzählung Die Mythendichterin über das Leben einer verschrobenen, erzählfreudigen alten Frau in einem kleinen Fischerdorf setzte sich gegen alle Konkurrenten durch und wurde in Form einer einwöchigen Serie in der Dubliner Zeitung abgedruckt.

Am Morgen nach meiner Reise war ich beim Chefredakteur aufgekreuzt und hatte ihm mitgeteilt, dass der Autor seinen Beitrag zurückgezogen habe und ich außerdem fristlos kündigen müsse. Sofort hatte ich mich auf den Weg nach Hause gemacht, wo ich mein Notizbuch öffnete und zu schreiben begann. Ich verfasste die Geschichte fast ohne Pause innerhalb von sechs Tagen. Den Beitrag reichte ich unter einem Pseudonym ein, um von der Redaktion nicht aussortiert zu werden.

Die Veröffentlichung ließ einen Verlag aufmerksam werden, der die Geschichte als Buch abdruckte und erfolgreich verkaufte. Ein junger Rezensent bezeichnete das Werk gar als »aufflackerndes Licht am Literaturhimmel«.

Ich hatte jedoch leider keine neue Idee für eine weitere Geschichte und mein ehemaliger Chef hatte dafür gesorgt, dass jede Zeitung in der Umgebung von meinem schlechten Benehmen erfuhr. So blieb ich ohne Arbeit. Und schon nach einigen Monaten kannte mich, wenn ich durch die Straßen schlenderte oder einkaufen ging, niemand mehr – weder den Kulturjournalisten, noch den erfolgreichen Schriftsteller.

 

 

Timo Braun
Der Lichthüter
Erschienen in: Im Halbkreis, hrsg. v. Jutta Weber-Bock, 
Anthologie der Literaturwerkstatt, 2006/07.

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